1. KAPITEL
Ella
Der Tod war mir vertraut. Er war allgegenwärtig. Ich konnte ihn sehen. Und das, was er zurückließ – die Geister der Verstorbenen – bestimmte meinen Alltag als Soul Huntress. Doch in diesem Augenblick nahm ich den Tod klarer und deutlicher wahr als jemals zuvor. Ich erschauderte, was nicht an der winterlichen Kälte lag, die Tschechien seit Tagen heimsuchte, sondern an diesem Ort, an dem ich eigentlich nicht sein dürfte.
Dem Sedletz-Ossarium.
Ich steckte das Einbruchwerkzeug, das ich benutzt hatte, um mir Zutritt zu dem Beinhaus zu verschaffen, in meine Jackentasche und warf einen letzten Blick über meine Schulter, um sicherzugehen, dass mich niemand beobachtete. Doch ich war allein auf dem Friedhof und das Auto, das ich mir gemietet hatte, das einzige auf dem Parkplatz. Es waren auch keine Geister zu sehen, was nicht verwunderlich war, denn die Seelen Verstorbener mieden Orte wie Friedhöfe, Krematorien oder andere Plätze, die an den Tod erinnerten, für gewöhnlich.
Nachdem ich sicher war, dass niemand außer mir hier war, huschte ich in das Beinhaus und zog die aufgebrochene Tür hinter mir zu, damit niemand die Spuren meines Verbrechens auf den ersten Blick sehen konnte, sollte doch noch jemand vorbeikommen.
Als Huntress war ich es gewohnt, gegen die menschlichen Gesetze zu verstoßen, doch heute verspürte ich deswegen das erste Mal Angst und Sorge. Diese Verstöße waren im Kampf gegen die Kreaturen der Nacht unvermeidlich, aber ich war nicht hier, um eine Kreatur zu vernichten. Ich war hier, um einen Fehler zu begehen; doch das hielt mich nicht davon ab, meinen Weg fortzusetzen, anstatt auf dem Absatz kehrtzumachen.
Ich schlang die Arme um meine Mitte. Es war beinahe vollkommen finster im Beinhaus, abgesehen von ein paar Opferkerzen, die vor dem Altar brannten, und dem Licht des fast vollen Mondes, das durch ein Rundbogenfenster fiel und ein großes Kruzifix anstrahlte, dessen Schatten sich über mir erhob. Ich war nicht gläubig, dennoch empfand ich bei dem Anblick großes Unbehagen, als ich die Stufen ins Ossarium hinabstieg. Ein normaler Mensch hätte sich unter diesen schlechten Lichtbedingungen wohl nicht zurechtgefunden, aber meine geschärften Huntersinne erlaubten es mir, alles zu sehen.
Was ich sah, ließ mich allerdings beinahe wünschen, die Dunkelheit nicht durchdringen zu können.
Menschliche Knochen. Zehntausende. Aus der Erde geholt und präpariert. Erhalten für die Ewigkeit, schmückten sie die Kapelle, die aussah, als würde der Tod selbst in ihr hausen. Kunstvoll angeordnet, stapelten sie sich nicht nur an den Wänden, sondern hingen wie Girlanden von der Decke. Das wohl schaurigste Schmuckstück der Kapelle war ein Kronleuchter, geformt aus acht Wirbelsäulen und Hunderten, wenn nicht Tausenden weiterer Knochen. Schädel in den verschiedensten Größen, manche so klein, dass sie zu Kindern gehört haben mussten, starrten mich aus ihren leeren, toten Augenhöhlen an und ließen mich meinen Plan hierherzukommen infrage stellen. Obwohl ich zugeben musste, dass der Rohheit dieser Kunst eine gewisse Schönheit innewohnte, wenn man sich erlaubte, sie zu sehen.
Ich wandte meinen Blick von dem Kronleuchter ab und verwarf jeden Gedanken an die Menschen, die ihre letzte Ruhestätte an diesem seltsamen Ort gefunden hatten. Ich war nicht hier, um Touristin zu spielen. Ich war hier, um ein Tor zur Geisterwelt zu öffnen – oder es zumindest zu versuchen.
All meine vorherigen Bemühungen waren gescheitert, und allmählich lief mir die Zeit davon, denn es war bereits die siebte von zwölf Rauhnächten. Zwar blieb noch die kommende Vollmondnacht Anfang Januar, doch anschließend würden Wochen vergehen, bis sich mir die nächste Gelegenheit bot. Denn anders als die Pforten zur Unterwelt, die jederzeit, aber nur an bestimmten Orten geöffnet werden konnten, hob sich der Schleier zur Geisterwelt nur an wenigen Tagen im Jahr. Der Ort spielte dabei eigentlich keine erhebliche Rolle, aber nach meinem Scheitern in den vergangenen Nächten konnte es nicht schaden, einen Ort aufzusuchen, an dem