: Leopold Federmair
: Die lange Nacht der Illusion
: Otto Müller Verlag
: 9783701362769
: 1
: CHF 17.10
:
: Erzählende Literatur
: German
: 285
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein Mann, den es an den Rand der Welt verschlagen hat, wird sich bewusst, dass er an die Grenzen seiner Möglichkeiten gekommen ist. Der Übersetzer hatte sich einst vorgenommen, das Hauptwerk Yukio Mishimas angemessen ins Deutsche zu übertragen, und muss sich nun eingestehen, dass er es nicht schaffen wird. Gleichzeitig sieht er seine halbwüchsige Tochter aufblühen, was ihn nicht nur stolz macht, sondern das Gefühl des Scheiterns verstärkt. Seine Frau ist aus Tokyo an den Rand Japans gezogen, weil ihre Firma das für notwendig befunden hat. Sie vermisst ihre Tochter, weiß aber auch, dass sie nicht zu ihrem Mann zurückkehren kann. Als sich in der endlosen Regenzeit eine Naturkatastrophe anbahnt, scheinen sich die Verhärtungen zu lösen... Erneut ist Japan in Leopold Federmairs aktuellem Roman Schauplatz der Handlungen, das ferne Land wird aber mehr und mehr zum vorausweisenden Sinnbild gesellschaftlicher Entwicklungen und Erstarrungen, wie sie sich heute in vielen Weltgegenden abzeichnen.

Leopold Federmair geboren 1957 in Oberösterreich, besuchte das Gymnasium Kremsmünster und Wels und studierte anschließend Germanistik, Publizistik und Geschichte an der Universität Salzburg. Er ist als Schriftsteller, Essayist, Kritiker und Übersetzer tätig (Übersetzungen aus dem Französischen, Spanischen und Italienischen, u. a. Werke von Michel Houellebecq, José Emilio Pacheco, Francis Ponge). 2012 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzung. Leopold Federmair lebt in Hiroshima, wo er an der Universität Deutsch unterrichtet.

Das Kleid


Durch das geöffnete Sichtfenster des Traktors trieb ihm der nächtliche Fahrtwind den herbstlichen Nieselregen entgegen. Das Gesicht des Fahrers glänzte vor Nässe im Schein der wenigen Straßenlampen, die starken Wangenknochen über den stetig mahlenden Kiefermuskeln waren gerötet, sein langes dunkles Haar hing ihm in wirren Strähnen in Stirn und Nacken. Er versuchte dennoch nicht, das Fenster herunterzuklappen, weil er wusste, dass der Scheibenwischer klemmte und er deshalb in der Dunkelheit schon bald nichts mehr von der regennassen Straße sehen würde, die abseits des Dorfes zunächst an vereinzelt liegenden Häusern und dann nur mehr an gemähten Weiden und leeren Äckern vorbeiführte. Der Blick des Lenkers war starr geradeaus gerichtet, die tief liegenden Augen stärker noch als sonst zu dunklen Schlitzen verengt, um dem Regen und der schlechten Sicht zu trotzen.

Der Traktor stieß Rauchwolken in die Nacht, aus einem vom Rost durchlöcherten Auspuff, der seine schalldämpfende Wirkung gänzlich eingebüßt hatte. Wenn der Fahrer im Schein einer plötzlich auftauchenden Straßenlampe ein Gehöft passierte, drosselte er das ohnehin schon niedrige Tempo zur Schleichfahrt, um das Knattern des Motors in ein dumpfes Puffen übergehen zu lassen. Bei einem Hof am Fuß eines lang gestreckten Hügels brannte noch Licht, eine Bäuerin trat in Regenkluft aus einer Stalltür, sie hielt sich schützend die Hand über die Augen und spähte in die Richtung des Traktors.

Der Fahrer registrierte sie aus den Augenwinkeln, ohne den Kopf zu bewegen, und fuhr weiter. Fröstelnd hob er die breiten Schultern, er biss die Zähne zusammen, seine Kiefermuskeln traten noch stärker hervor. Die Nässe war inzwischen in seine Kleidung gedrungen, hatte seinen militärgrünen Parka durchweicht, seine Arbeitshose war auf den Oberschenkeln schon dunkel vor Feuchtigkeit. Noch verhinderte der untere Teil des Kleids, den er faltig hochgeschoben unter der Hose trug, dass sein Unterleib nass wurde. Doch das eng anliegende Oberteil klebte bereits unter dem schweren Flanellhemd auf seiner rasierten Brust.

An einer unbeleuchteten Weggabelung stoppte er kurz, um sich zu orientieren. Dann bog er in einen schmalen, unasphaltierten Seitenweg ein, die großen Hinterräder mit den abgenutzten, aber immer noch ausreichend profilierten Reifen sanken tief in