: Christina Viragh
: Im April Roman
: Dörlemann eBook
: 9783038209744
: 1
: CHF 17.90
:
: Erzählende Literatur
: German
: 384
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Auf derselben Wiese, auf der im 15. Jahrhundert Holzstangen den Ort verschiedener Untaten markieren, steht Anfang des 21. Jahrhunderts das Mietshaus, in dem Heinz und Selena die kühle Endphase ihrer Beziehung erleben. In den zwanziger Jahren befindet sich auf ebendieser Wiese das Bauernhaus der Familie Schacher, aus dem der junge Schacher davonläuft und mit Bruns Ein-Mann-Varieté auf Wanderschaft geht. In den sechziger Jahren wohnen die neunjährige Mari und ihr Vater in dem Mietshaus, auch sie ein seltsames Paar: Mari ist in ständiger Angst vor Krieg und Geheimpolizei, aber auch vor der neugierigen Nachbarin, und Vater Ferenc fasst im neuen Land nicht Fuß.Auf vier Zeitebenen über sechs Jahrhunderte hinweg zeichnet Im April die Geschichte ein und desselben Ortes und seiner einander ablösenden Bewohner nach.

Christina Viragh, geboren 1953 in Budapest, kam mit sieben Jahren nach Luzern. Studium der Philosophie und Literatur. Seit den 1980er Jahren ist sie als Schriftstellerin und Übersetzerin tätig. Zahlreiche Publikationen, zuletzt erschienen die Romane Pilatus und Im April. Christina Viragh übersetzte u. a. Marcel Proust, Imre Kertész, Sándor Márai und Péter Nádas. Für ihre Übersetzung von Nádas' Parallelgeschichten erhielt sie 2012 den Preis der Buchmesse Leipzig. Sie ist korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Rom.

I


Es ist ein Aprilabend Anfang der Sechzigerjahre, erstaunlich warm, das Wohnzimmerfenster steht offen, hin und wieder blähen sich die Nylonvorhänge herein, die Luft riecht nach dem schwelenden Feuer hinter dem Haus, weiß Gott, was die da angezündet haben, der Blumenduft, wie nicht reiner Mandelhonig, kommt von den weißen Zweigen in einer Vase, Spirea, die in diesem April auch schon blüht. Halb acht, es ist nicht dunkel, die Blüten des hinter dem Haus stehenden Kirschbaums treten in der dichter werdenden Dämmerung deutlicher hervor. Da und dort schweben Blütenblätter zur Erde, auch das sieht man deutlich und ist an den Schnee erinnert, der noch vorletzte Woche fiel, kurz bevor es ungewöhnlich warm wurde. Der Rauch vom kleinen Feuer riecht immer mehr nach angesengtem Haar, da ist wahrscheinlich etwas drin, das nicht richtig brennt.

Derselbe Aprilabend Anfang der Zwanzigerjahre, auf der Höhe des Wohnzimmers ist nur Luft, feuchte Luft von dem Nieselregen, der hier auf eine links und rechts von je einem Mietshaus eingegrenzte Wiese fällt. Die Blüten des Löwenzahns auf der Wiese sind geschlossen und bräunlich. Der Kirschbaum besteht aus einem etwa meterhohen, gegabelten Zweig, der von einem Stock gestützt wird. Die Luft riecht nach Schnee.

Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts befinden sich im Wohnzimmer noch zwei Gegenstände, die in den Sechzigerjahren beim Einzug in den Neubau hier platziert worden sind, nämlich ein Kerzenhalter aus Zinn und außen am Fenster ein Thermometer, das an diesem Aprilabend fünfzehn Grad anzeigt. Das Wetter ist nicht so schlecht, bedeckt, aber trocken. Das Fenster steht einen Spaltbreit offen, die hereinströmende Luft hat einen metallischen Beigeschmack. Im Zimmer ist auf der niedrigsten Stufe geheizt. In einer Vase stehen nicht Frühlingsblumen, sondern Astern.

An diesem Aprilabend des Jahres 1415 macht eine laubgeschmückte Reitergesellschaft auf der Wiese hier Rast. Das Buchenlaub steckt seitlich am Stirnband des Zaumzeugs der Pferde, an den Kopfbedeckungen der Reiterinnen und der Reiter und auch zu Kränzen gewunden auf ihrem Haar oder um ihren Hals. Eine Trompete gibt das Zeichen zum Absteigen, die Pferde werden zu einer Gruppe zusammengenommen und auf der Höhe des späteren Zwischenraums zwischen Lift und Treppenhausgeländer nebeneinander aufgestellt. Einige werden an der Brust rückwärts gestoßen, damit die Reihe gleichmäßig steht.

An diesem Aprilabend Anfang der Sechzigerjahre lässt die Straßenbahn, die im Sechsminutentakt an der Vorderfront des Hauses hält und anfährt, den Spireazweig in der Vase kaum merklich zittern. Kleine runde weiße Blütenblätter fallen auf den sechseckigen Couchtisch aus hellbrauner Esche.

Die Astern des einundzwanzigsten Jahrhunderts stehen neben dem Sofa, auf einem niedrigen Glastisch mit Rädern. Ein graugelb vertrocknetes, an seinem ausgezackten Rand eingekrümmtes Blatt liegt auf der Glasplatte, die anderen, ebenfalls weitgehend vertrockneten Blätter sitzen noch an den Stielen, die dunkelroten Blüten sehen frisch aus.

Der Haargeruch vom schwelenden Feuer ist im Sechzigerjahrewohnzimmer im hinteren Teil mit dem Esstisch, ebenfalls aus Esche, stärker zu riechen als beim Fenster, wo die hereinströmende Luft die Gerüche verdünnt. Riecht wirklich komisch, denn jetzt mischt sich noch etwas Herbsüßes hinein, wie von Holz, das mit Duftöl durchtränkt ist. Zwischendurch riecht es von den Stummeln im Aschenbecher auf dem Tisch.

Im einundzwanzi