: Micha Brumlik
: Antisemitismus. 100 Seiten Reclam 100 Seiten
: Reclam Verlag
: 9783159615455
: Reclam 100 Seiten
: 1
: CHF 6.30
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: Gesellschaft
: German
: 100
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Das antisemitische Weltbild folgt stets einem paranoiden Leitgedanken: Seine Anhänger sind - angesichts der objektiven Komplexität der Verhältnisse - von der Suche nach geheimen Drahtziehern im Hintergrund besessen.« Antisemitismus ist ein Problem - seit Jahrtausenden. Doch wie entstand und entsteht auch heute noch Hass auf Juden? Mit Blick auf aktuelle Ereignisse und Entwicklungen geht Micha Brumlik einem Phänomen auf den Grund, das sich stets nicht nur verbal, sondern auch in Form von Gewalt und Terrorismus geäußert hat - von den mittelalterlichen Pogromen bis zur Shoah / zum Holocaust und zum heutigen Islamismus. Antisemitismus ist eine Form des Rassismus, die jeden und jede von uns etwas angeht - umso wichtiger ist es, seine Wurzeln zu kennen. Mit 4-farbigen Abbildungen und Infografiken.

Micha Brumlik, geboren 1947, ist emeritierter Professor der Goethe-Universität Frankfurt am Main, war Direktor des Fritz Bauer Instituts und ist seit 2013 Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin/Brandenburg. Er zählt zu den renommiertesten Forschern über die Geschichte des Judentums, zeitgenössische jüdische Themen und Antisemitismus.

Betroffen? Ein Jude in Deutschland


Der Anschlag auf die Synagoge in Halle am Jom Kippur2019, dem höchsten jüdischen Feiertag, der zwei Menschen das Leben kostete, markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der Bundesrepublik. Dabei war er keineswegs der erste antisemitische Anschlag mit tödlichen Folgen. So deponierten am9. November1969 Mitglieder der linksradikalen Guerillabewegung Tupamaros eine Bombe im Jüdischen Gemeindezentrum Westberlins, so starben am13. Februar1970 sieben Mitglieder der Jüdischen Gemeinde München, allesamt Holocaustüberlebende, bei einem Brandanschlag, so wurden am19. Dezember1980 in Erlangen der jüdische Verleger Shlomo Lewin und seine Frau Frida Poeschke aus antisemitischen Gründen kaltblütig erschossen. Im Falle des Mörders von Halle kam zusammen, was meist zusammenfällt: Hass auf selbstbewusste Frauen, Hass auf Homosexuelle sowie vernichtender Hass auf das Judentum – auf jüdische Menschen, die jüdische Religion und die jüdische Kultur. Zudem war er getrieben von der Wahnidee, die Juden wollten die »weiße Rasse« vernichten bzw. durch die Förderung von Immigration »umvolken«.

Mich hat der Anschlag von Halle tief erschüttert, aber nicht überrascht, war ich doch in meinem Leben immer wieder von Antisemitismus betroffen. Ich bin der Sohn von den Nazis verfolgter Juden, die dieNS-Zeit im von Deutschen besetzten Europa erlebten – Gott sei Dank nicht in Konzentrations- und Vernichtungslagern, sondern ab1938 bzw.1942 in der Schweiz. Als fünfjähriges Kind empfand ich die Rückkehr nach Westdeutschland1952 als traumatisch und – aber das ist eine andere Geschichte – den Wunsch, nach dem Abitur nach Israel auszuwandern, als geradezu lebensrettend. Meine Kindheit war überschattet von der stillen Trauer meiner Mutter, die sich zwar hatte retten können, aber einen großen Teil ihrer Verwandtschaft verloren hatte – zumal eine geliebte Cousine ihrer Jugend, die nach Polen deportiert und dort ermordet wurde. Sprach sie mit mir, dem inzwischen achtjährigen Kind, darüber, traten ihr Tränen in die Augen, und sie fragte sich, ob es richtig gewesen war, nach dem Krieg nach Deutschland in ihre Geburtsstadt Frankfurt am Main zurückgekehrt zu sein.

Auch ich selbst habe immer wieder Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht. Folgende Szenen haben sich mir unauslöschlich eingeprägt:

Im Alter von sechs Jahren hänselte mich ein Klassenkamerad, Sohn eines Versicherungsdirektors, nach einem Streit beim »Mensch-ärgere-Dich-nicht«-Spiel mit »Jude, Jude« und zeigte bei sich zu Hause mit dem Finger auf mich – das war1953. Das nächste Erlebnis widerfuhr mir bei der Abiturreise nach Rom1967, nachdem mir beim Fingerspiel mit einer Münze (à laBlow up) ein Hundert-Lire-Stück klingend auf den Boden der römischen Kirche Santa Maria Maggiore gefallen war. Unser Griechischlehrer drehte sich um, fixierte mich und schrie mich an: »Ha, Brumlik, wer hat die