Am anderen Morgen
Marina hat schlecht geschlafen. Vielleicht verdankt sie die grässlichen Albträume dem Festessen zu ihrem zehnten Hochzeitstag am Abend zuvor, zu dem Friedrich sie in ein exklusives Lokal eingeladen und ihr die ganze Zeit über liebevoll den Hof gemacht hatte. Vielleicht ist aber auch das Wetter daran schuld. In letzter Zeit spürt sie dessen Auswirkungen immer deutlicher und beginnt, sich vor dieser Entwicklung zu fürchten. Früher hatte sie es belächelt, wenn ältere Damen baten, die Tür zu schließen und doch bitte auf ihre Knochen Rücksicht zu nehmen, welche Zugluft überhaupt nicht mehr vertrügen. Und heute …? Sollte es schon so weit gekommen sein, dass sie die unangenehmen Auswirkungen ihres fortgeschrittenen Alters zu spüren bekommt? Sie ist doch erst Anfang fünfzig!
Ein kleiner Seufzer entfährt ihr und wird sogleich durch das entschlossene Zurückschlagen der Bettdecke in seine Schranken gewiesen. Sie schwingt ihre Beine aus dem Bett und lässt den übrigen Körper energisch folgen. Noch während sie in die Pantoffeln schlüpft, riskiert sie einen verhaltenen Blick zurück auf das Lager. Friedrich schläft tief und fest, gibt gelegentlich grunzende Laute von sich und lässt beim Ausatmen eine Haarsträhne flattern, die sich über sein Gesicht geschlichen hat. Nein, sie hat ihn durch ihr abruptes Aufspringen nicht geweckt, er wird wie gewöhnlich noch ein gutes Stündchen weiterschlafen, wenn sie ihn denn lässt. Nach nunmehr zehn Ehejahren weiß sie das nur zu gut.
Im Bad ist es schön warm. Sie lässt das Nachthemd fallen und reckt sich genießerisch. Ein flüchtiger Blick in den Spiegel lässt sie erschauern. Das Gesicht darin erscheint ihr kaum wie ihr eigenes, zerknautscht, missmutig, seltsam fremd, entzaubert. Enttäuscht stöhnt sie auf.
»Heute ist ein guter Tag.«
Sie fährt herum, reißt ein Handtuch vom Haken und versucht, ihre Blöße zu bedecken. Da ist niemand. Sie prüft die Verriegelung der Tür: abgeschlossen. Woher kommt die Stimme? Und wem, zum Teufel, gehört sie? Sie schlägt das Badetuch um den Leib und setzt sich, mit dem Rücken gegen die Wand, die Knie fest geschlossen, ratlos auf den Hocker. Sich wieder zu entblößen und die Dusche zu betreten, wagt sie nicht, solange die Quelle der Stimme nicht entdeckt ist. Ihre Augen durchsuchen den Raum: das kleine Fenster mit dem noch geschlossenen blickdichten Vorhang, Wanne, Duschkabine, das Schränkchen mit den Handtüchern, Bidet und Toilette. Nichts, der gut überschaubare Raum ist leer. Ach ja, den Wäschekorb neben sich hat sie übersehen! Sie wagt es, den Deckel vorsichtig anzuheben: Bis auf eins i