Anne kniete regungslos mitten auf der Straße. Ihr Verstand bemühte sich, die Dinge zu verstehen, die hier soeben geschehen waren, doch er scheiterte kläglich. Wie konnte es möglich sein, dass Samuel von Anfang an seine Hände in diesem schmutzigen Spiel gehabt hatte? Er hatte Cedric schändlich verraten und dabei zugesehen, wie ihm Schreckliches angetan wurde. Cedrics qualvolle Schreie, als ihm die Flügel ausgerissen worden waren, hallten noch immer laut in Annes Ohren und sie spürte seinen unsagbaren Schmerz, als wäre es ihr eigener gewesen.
Niemals würde sie Samuel vergeben, dass er Cedric in eine Falle gelockt hatte!
Cedric … wo haben sie dich nur hingebracht? Wie konnte sie ihn jemals finden? Anne spürte, wie Panik mit eisigen Fängen nach ihr griff und wusste, sie musste dagegen ankämpfen. Doch wie sollte sie das schaffen?
Sie konzentrierte sich auf die Feder, die sie noch immer in ihrer Hand hielt – strahlendes Weiß, das brutal von Tropfen dunkelroten Blutes durchbrochen wurde.
Cedrics Blut.
Als Zeuge der Gräueltaten, die hier soeben geschehen waren. Dort, wo die Feder ihre Haut berührte, konnte sie noch immer seine vertraute Wärme spüren. Sie fühlte das geliebte Kribbeln, jedoch in einer so abgeschwächten Form, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb. Zärtlich strich sie wieder und wieder darüber, als könnte sie dadurch das Gefühl intensivieren.
Wie viel Zeit bereits verstrichen war, wusste sie nicht, doch nach und nach blinzelte sie die Nässe in ihren Augen fort. Als sie den Kopf anhob, blickte sie in die heller werdende Dämmerung. Sie empfand es geradezu als eine Verhöhnung von Cedrics Qualen und ihrer grenzenlosen Verzweiflung. Ein neuer Morgen brach an und läutete den Beginn des nächsten Tages ein, als wäre nichts geschehen. Das Rad der Zeit drehte sich einfach weiter. Unaufhörlich und rücksichtslos.
Nur würde ihr Leben niemals wieder so sein wie zuvor.
Wie ferngesteuert stand sie auf und ging zu dem Wrack von ihrem Auto. Einige Minuten lang suchte sie nach ihrer Handtasche und fand sie schließlich im hintersten Winkel. Als sie diese mühsam herausgezogen hatte, prüfte sie, ob ihr Handy noch funktionierte, denn irgendwie musste sie nach Hause kommen und sich überlegen, was sie nun tun sollte.
Ohne darüber nachzudenken, wie früh es an diesem Sonntagmorgen noch war, rief sie ihre Schwester an.
„Anne, ist alles in Ordnung?“ Als Anne nicht gleich antwortete, wurde Rachels Stimme eindringlicher: „Was ist geschehen?“
Bei dem vertrauten Klang konnte Anne sich nicht mehr zurückhalten. „Nein. Rachel, er ist weg!“ Sie weinte, bis sie keine Luft mehr bekam.
„Anne, bitte sprich mit mir. Was ist passiert? Wo bist du?“
„Auf einer Landstraße.“
„Was? Wieso das denn? Bist du verletzt?“
„Nein.“
„Gott sei Dank! Sag mir genau, wo du bist, ich komme dich holen!“
Einige Zeit später sprang Rachel aus dem Wagen. „Anne! Meine Güte, dein Auto! Geht es dir wirklich gut? Du blutest ja!“
„Ich bin okay. Es ist nur ein Kratzer.“ Ihre Schwester nahm sie in die Arme und drückte sie an sich.
„Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Was ist denn passiert?“
Anne wusste, dass sie ihr niemals sagen durfte, was wirklich geschehen war. Der Himmel war bezüglich Strafen nicht gerade zimperlich – der Beweis dafür lag noch vor ihr. Wieder hörte sie, Cedrics qualvolle Schreie in ihrem Kopf und sein schmerzverzerrtes Gesicht erschien in aller Deutlichkeit vor ihrem geistigen Auge. Dieser Anblick würde sie auf ewig verfolgen, dessen war sie sich sicher.
„Ich bin von der Straße abgekommen“, log sie. „Bitte bring mich nach Hause.“
„Bist du sicher, dass du nicht ins Krankenhaus gehörst?“ Anne spürte Rachels besorgte Blicke.
„Ja.“Denn eigentlich wurde ich ermordet, doch ein Engel hat mich geheilt. „Ich möchte nur nach Hause.“
„Na gut“, gab Rachel sich geschlagen und Anne stieg in das Auto ihrer Schwester. Als sie an der Stelle vorbeikamen, an der Cedric verschwunden war, blickte si