Ich bin ein Inselkind. Und ein Dorfkind. Rügen ist für mich Heimat, auch wenn es mich als junge Frau fortzog und mir die Insel damals viel zu klein für all meine Sehnsüchte und Träume erschien. Wie hat mich meine Jugend geprägt? Wäre ich ein anderer Mensch geworden, wenn ich in Berlin aufgewachsen wäre? Das frage ich mich manchmal und spüre schnell, dass ich hierhergehöre. Die Ruhe, die Stille, die Weite, der Himmel, die Tiere – das war und ist meine Welt. Alles, was es mir schwer macht, es auf Dauer in einer Großstadt auszuhalten, gibt es hier nicht. Über Felder und Wiesen reiten, bei jedem Wind und jedem Wetter, durch die Wälder streifen … die einsamen Strände am Abend, wenn sich alle in ihre Häuser und Hotels zurückgezogen haben. Im Winter herrscht bei uns wunderbare Stille, es ist weiß und eisig kalt, manche sagen gar, das entspreche dem Naturell der Einheimischen am besten …
Am 9. Januar 1973 bin ich geboren, im Sternzeichen des Steinbocks. Dessen Vertreter sind, heißt es, ausdauernd, beharrlich, belastbar und bodenständig – Eigenschaften, die ich gern akzeptiere. Aufgewachsen bin ich in Samtens, einer zwanzig Kilometer nordöstlich von Stralsund und gut zehn Kilometer südlich von Gingst gelegenen Gemeinde, die Verwaltungssitz des Amtes West-Rügen ist. Rund zweitausend Einwohner leben da heute; der auf slawische Wurzeln zurückgehende Ortsname soll »einsam« bedeuten. Das war ich als Kind selten, schließlich bin ich mit fünf Geschwistern aufgewachsen, in – wie man so leichthin sagt – einfachen Verhältnissen. Meine Eltern waren, wie es in der DDR an der Tagesordnung war, beide berufstätig: mein Vater als Schlosser, meine Mutter als Agrarökonom. Nein, eigentlich sollte ich Agrarökonomin sagen, doch mit »geschlechtergerechter Sprache« hatte man in der DDR nichts am Hut. Männliche Berufsbezeichnungen schlossen Frauen automatisch ein. Immerhin würde ich mich selbst heute als Buchhändlerin bezeichnen, klar.
Wer durch das Samtens der Gegenwart fährt, muss die Zeit zurückdrehen, um zu verstehen, wie es hier vor fünfzig Jahren aussah. Beschaulich, ja idyllisch ist die Gegend immer noch, doch durch die Nähe zur neuen, 2015 eingeweihten Bundesstraße 96 ist das südliche Samtens vor allem in den Sommermonaten zum Verkehrsknotenpunkt geworden. Lange, nervende Staus sind keine Seltenheit.
Das war in meiner Jugend anders, zum Glück. Wir sind in einem Reetdachhaus aufgewachsen, inmitten von Tieren aller Art: Schweine, Ziegen, die die Milch gaben für die abgesetzten Schweineferkel ohne Muttersau, Gänse, Enten, Kaninchen, Katzen, Hunde, Hühner … Obwohl meine Eltern keine Landwirtschaft im eigentlichen Sinn betrieben, gehörten die Tiere zu uns – und die Natur. Einschränkungen kannte ich kaum. Ich eroberte mir schon als Kind die Umgebung und fand überall genügend Anregungen. Soweit ich zurückdenken kann, glich unser Hof einem Abenteuerspielplatz. Ständig wurde etwas gebaut oder restauriert, und so breiteten sich an allen Ecken und Enden Sandhaufen, Bauschutt, Holzbretter und Schilfrohr aus – wunderbares Material für ein ohnehin kaum zu bändigendes Kind, wie ich eines war. Aus all den Fundstücken auf unserem Hof ließ sich immer wieder Neues und Spannendes bauen, Burgen, Höhlen, Verschläge, Unterstände …
Ich war gewissermaßen ein Pippi-Langstrumpf-Kind. Wie Astrid Lindgrens wunderbare Heldin ließ ich mich kaum zähmen, und Vorschriften, die mir nicht einleuchteten, gingen mir gegen den Strich. Meine Freunde sagen übrigens, daran habe sich bis zum heutigen Tag nichts geändert … Alle Versuche, mir Puppen und rosafarbene Kleidchen schmackhaft zu machen, waren zum Scheitern verurteilt. Stattdessen ignorierte ich solche Rollenklischees und führte mich, wenn man so will, eher wie ein Junge auf. Das heißt, ich hielt mich, wann imme