: Fjodor M. Dostojewski
: Arme Leute
: apebook Verlag
: 9783961301966
: 1
: CHF 2.40
:
: Erzählende Literatur
: German
Makar Dewuschkin liebt die hübsche, junge Warwara Dobrosiolowa. Sie leben im selben Armenviertel in St. Petersburg. Sie treffen sich kaum, doch schreiben sich gegenseitig Briefe. Ein Jahr lang hält das an, und Makar Dewuschkin versucht, die zurückhaltende junge Frau für sich zu gewinnen. Doch diese sieht einen möglichen Ausweg aus ihrer Armut in der Heirat eines reichen Gutsbesitzers. Ein letztes Mal noch schreibt Makar ihr einen Brief, in dem Versuch, sie umzustimmen. 'Arme Leute' ist Dostojewskis erster Roman. Nach seinem Erscheinen 1846 wurde der junge Autor mit einem Schlag berühmt.

II

 

Anfangs, solange wir, das heißt meine Mutter und ich, uns in unserer neuen Wohnung noch nicht eingelebt hatten, fühlten wir uns beide etwas ängstlich und fremd bei Anna Fjodorowna. Diese wohnte in einem eigenen Hause in der sechsten Linie. Das ganze Haus enthielt nur fünf ordentliche Zimmer. In dreien davon wohnte Anna Fjodorowna mit meiner Kusine Sascha, einer vater- und mutterlosen Waise, die bei ihr aufwuchs. Dann wohnten in einem andern Zimmer wir, und endlich das fünfte, neben dem unsrigen gelegene Zimmer hatte ein armer Student namens Pokrowski inne, der es von Anna Fjodorowna gemietet hatte. Diese lebte sehr gut, üppiger, als man von vornherein hätte erwarten können; aber ihre Einnahmen waren rätselhaft, ebenso wie ihre Beschäftigung. Sie hatte immer viel zu tun und war immer stark in Anspruch genommen; mehrere Male täglich fuhr und ging sie aus; aber was sie eigentlich tat, und worin ihre Geschäfte bestanden, das konnte ich absolut nicht erraten. Sie hatte eine ausgedehnte, buntscheckige Bekanntschaft. Fortwährend bekam sie Besuch von Gott weiß was für Leuten, immer in Geschäften und nur auf einen Augenblick. Meine Mutter führte mich immer in unser Zimmer, sobald die Türklingel ertönte. Anna Fjodorowna war deswegen auf meine Mutter sehr böse und sagte fortwährend, wir seien gar zu stolz, stolzer, als es sich für uns schicke; ja, und wenn wir noch einen Grund hätten stolz zu sein. Ganze Stunden lang konnte sie solche Reden führen. Ich verstand damals diese Vorwürfe des Stolzes nicht, ebenso wie ich auch jetzt erst verstanden habe oder wenigstens ahne, warum meiner Mutter der Entschluß, bei Anna Fjodorowna zu wohnen, so schwer geworden war. Anna Fjodorowna war ein böses Weib; sie peinigte uns unaufhörlich. Warum sie uns eigentlich zu sich eingeladen hatte, das ist mir bis auf den heutigen Tag ein Geheimnis. Anfänglich war sie gegen uns ziemlich freundlich; aber dann zeigte sie in vollem Umfange ihren wirklichen Charakter, da sie sah, daß wir vollständig hilflos waren und nirgends anderswohin gehen konnten. In der Folgezeit wurde sie gegen mich sehr freundlich und verstieg sich sogar zu plumpen Schmeicheleien; aber in der ersten Zeit hatte ich ebenso wie meine Mutter viel zu leiden. Alle Augenblicke machte sie uns Vorwürfe; sie redete immer nur von ihren Wohltaten. Fremden Leuten stellte sie uns als ihre armen, hilflosen Verwandten vor, eine Witwe und Waise, denen sie aus Barmherzigkeit und christlicher Liebe ein Obdach gewähre. Bei Tische verfolgte sie jeden Bissen, den wir aßen, mit den Augen, und wenn wir nicht aßen, so war es auch wieder nicht recht, und sie erging sich in häßlichen Redensarten: wir seien mäklerisch; wir möchten vorliebnehmen; was sie habe, gebe sie gern; ob wir denn selbst Besseres hätten. Auf meinen Vater schimpfte sie fortwährend; sie sagte, er habe etwas Besseres sein wollen al