Von meinen Reisen gibt es unzählige Fotos. Momentaufnahmen. WhatsApp-Aufnahmen für meine Familie. Retuschierte Aufnahmen für Instagram. Allein mein iPhone umfasst 16.364 Bilder. Aufgenommen innerhalb eines knappen Jahres. Nur von einem verlängerten Wochenende, das schon eine Weile zurückliegt, gibt es kein einziges Bild. Und das, obwohl es die wohl bedeutsamste Reise meines Lebens war und vermutlich für immer bleiben wird. Hätte ich meine Reise damals dokumentiert, wenn es Instagram schon gegeben hätte? Hundertprozentig. Ob die Reise ebenso bedeutsam für mich gewesen wäre? Auf gar keinen Fall, ich hätte den Großteil meiner Zeit an die App verschwendet.
Juni 2013
Ich studiere im zweiten Semester European Studies an der Universität Maastricht, und meine Reisebegleitung ist neunzig Jahre alt. Meine Uroma. Sie will mir ihre Heimat zeigen. In den Fünfzigerjahren aus der ehemaligen DDR geflohen, möchte sie mir ihr Elternhaus zeigen und dort Zeit mit ihren zwei Schwestern, ihrem Schwager und ihrem Neffen Dieter verbringen. Wir laufen zum Flieger. Sie ist nervös: »Nena, wenn du auch nur einem einzigen Menschen an Bord erzählst, dass ich noch nie geflogen bin, werde ich richtig böse.« Ich muss grinsen.
Wir warten, bis alle eingestiegen sind. Geniert sie sich doch vor den Mitreisenden, dass sie nicht mehr richtig laufen kann. Am Ende hieve ich sie die Stufen hoch. Eine nach der anderen. Wir nehmen Platz und bestellen uns einen Sekt. Verzückt blickt sie aus dem Fenster: »Nena, wir schweben. Ich fliege. Wirklich. Schau mal, wir sind über den Wolken. Sie sehen aus wie Zuckerwatte.« Nie sah sie jünger aus, nie war ich stolzer auf sie.
Und ich, die schon Hunderte Male geflogen ist, nehme die Welt unter mir zum ersten Mal wahr. Würde es diesen besonderen Moment geben, wenn ich bereits ein Social-Media-Junkie wäre? Vermutlich nicht. Wir würden Selfies machen. Die restliche Flugzeit? An die Filter-App AirBrush verschwenden.
Ihr Neffe holt uns vom Flughafen ab. Nach dreißig Minuten erreichen wir Hohenthurm, den Ort ihrer Kindheit. Die Straßen sind nicht gepflastert. Auch sonst sehen blühende Landschaften anders aus. Kein Wunder, dass meine Uroma geflohen ist, denke ich mir. Was wohl aus mir geworden wäre, wenn ich hier aufgewachsen wäre? Wir halten vor einem in die Jahre gekommenen Haus. Während sie mir das Gebäude und das Grundstück als das achte Weltwunder präsentiert, fühle ich mich fremd, fehl am Platz und verspüre plötzlich das unbändige Verlangen nach einer Zigarette. Ob es hier einen Kiosk gibt? Oder wenigstens ein Taxi, das mich in die nächstgelegene Stadt fährt? Wohl kaum. In diesem Kaff leben wohl nicht mehr als eintausend Menschen.
Mein Gefühl verfliegt in dem Moment, als die Schwestern meiner Uroma anfangen zu weinen, als sie uns erblicken. Nicht, weil sie meine Uroma lange nicht mehr gesehen haben. Vergeht doch seit ihrer Flucht kaum ein Jahr ohne ausgedehnten Heimatbesuch, sondern weil ich dabei bin. Stunden später sitzen wir in der Abenddämmerung beisammen. Essen und Wein werden gereicht, und die Familie schwelgt in Erinnerungen. Geschichten gibt es genug. Anekdoten aus fast einem ganzen Jahrhundert. Lebendiger Geschichtsunterricht eben.
Meine Uroma erzählt, wie ihr verstorbener Mann in Kriegszeiten Abend für Abend, nur in einem Hemd bekleidet, vor ihrer Arbeitsstelle wartete, um sie nach Hause zu begleiten. Als der Winter einbrach, nähte sie ihm einen Mantel. Aus Stoffresten. Es muss eine große Liebe gewesen sein, doch selbst Jahrzehnte später ist meine Uroma noch verwundert, warum er gerade sie auserkor. In ihrer Wahrnehmung hätte mein Uropa wirklich jede haben können. Während sie darüber referiert, wie großartig, wie schön, wie einmalig er war, erkenne ich in ihr die junge verliebte Frau wieder, die sie einst gewesen sein muss.
Auch über ihre Tochter, meine Oma, wird viel gesprochen. Wie lebensfroh sie war, wie pflichtbewusst, wie sie ihre erste Banane auf der Flucht aus der DDR von einem Lkw-Fahrer geschenkt bekam. Und obwohl ich sie nicht kenne, da sie Jahre vor meiner Geburt viel zu früh an Brustkrebs verstorben ist