1. KAPITEL
Andy lehnte ihre Stirn an die kühle Scheibe des kleinen Sichtfensters. Unter ihr erstreckte sich nichts als eine endlose weiße Wolkendecke, nur hier und da schimmerte der Atlantik zwischen ein paar Wolkenfetzen hindurch. Ob es wirklich eine so gute Idee war, was sie da tat … was sieplante zu tun? Was wusste sie schon über Greg Wells? Nur die Dinge, die sie in den Zeitungen über ihn gelesen hatte: Playboy, Millionär, ehemaliger Surfprofi, der heute der Besitzer einer der größten Werften für Motor- und Segelboote weltweit war. Aber das sagte nicht wirklich etwas über einen Menschen aus.
Ihre Gedanken wanderten zurück nach London, zu dem Tag, an dem sie die Anzeige entdeckt hatte:
Begleitung für Segeltrip in die Südsee gesucht. Tauch- und Segelkenntnisse sowie Fotoausrüstung für Reisedokumentation erforderlich!
Die Worte hatten sie magisch angezogen. Die Südsee! Jener Punkt der Erde, der am Weitesten vom tristen London entfernt war. Ein wahres Paradies. Würde sie jemals wieder die Chance bekommen, dort hinzufliegen? Wohl kaum, dachte sie im Hinblick auf ihre spärliche Reisekasse. Ihre Arbeit als Fotografin brachte nicht allzu viel ein. Im Zeitalter von Selfies, Photoshop und Co. waren Aufträge rar gesät. Höchstens mit Hochzeits- und Babybildern ließ sich etwas verdienen. Entsprechend groß war auch die Konkurrenz in diesen Sparten. Zudem widerstrebte es Andy, den Leuten ständig zu bestätigen, wie wundervoll sie aussahen.
Ihr sagte das schließlich auch niemand.
Also war diese Anzeige, aufgegeben in einem renommierten englischen Fotomagazin, gerade recht gekommen, und sie hatte sich kurzerhand beworben. Vielleicht ein wenig überstürzt, aber sie sagte sich, dass ein solcher Auftrag der erste Schritt zu einer Karriere sein konnte. Er konnte ihr Türen bei renommierten Zeitschriften und Bildagenturen öffnen, ihre Arbeit einer breiten Öffentlichkeit bekannt machen.
Und um ehrlich zu sein, hatte sie nicht damit gerechnet, tatsächlich ausgewählt zu werden. Sie hatte kaum Referenzen vorzuweisen und wenig Kontakte zu Künstlern oder sonstigen einflussreichen Kreisen. Umso überraschter war sie gewesen, als sie aufgefordert wurde, ein Portfolio ihrer Arbeiten einzureichen.
Wie sie jetzt wusste, ging es um eine Segeltour von Papeete auf Tahiti bis nach Auckland in Neuseeland. Dabei sollte das neueste Boot aus der Werft von Wells Unlimited, Greg Wells’ Firma, der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Offenbar war es ein Wunderwerk an technischer und bootsbauerischer Raffinesse. Der begleitende Fotograf sollte die Reise dokumentieren und mit Bildern und Videos der grandiosen Ober- und Unterwasserwelt der südlichen Hemisphäre bei potenziellen Kunden die Lust aufs Segeln wecken.
Als sie dann vor vier Wochen eine E-Mail erhalten hatte, mit der Aufforderung, sich kurzfristig in Miami einzufinden, konnte sie ihr Glück kaum fassen. Ein Flugticket in die USA war am Flughafen bereits für sie hinterlegt gewesen. Vermutlich, überlegte Andy, sind Fotografen mit Segelkenntnissen nicht so leicht zu finden. Gut für sie.
Aber war es das wirklich? Sollte sie sich auf solch ein Abenteuer einlassen? Mit einem wildfremden Mann vier Wochen auf einem Segelboot mitten auf dem Pazifik zu verbringen? Und alles dafür aufzugeben, was sie sich aufgebaut hatte? Wenn man bei einem winzigen Einzimmeratelier in Chelsea und einer trostlosen Hinterhofwohnung gleich nebenan überhaupt von einer nennenswerten Existenz sprechen konnte.
Vielleicht ist ein Ortswechsel ja genau das, was ich brauche, um endlich Fuß zu fassen, meldete sich eine trotzige Stimme in ihrem Kopf zu Wort. Sie konnte segeln. Sie konnte fotografieren. Sie war wie gemacht für diesen Job. Warum sollte sie zögern?
Ich kann alles schaffen, was ich will, sagte sie sich selbst.Niemand hat das Recht, mir etwas anderes zu erzählen.
Verbissen presste sie die Lippen aufeinander. Doch dieser nagende Zweifel, der ihre Gedanken verdüsterte, ließ si