Flucht
22. November 1210
Raymond geht langsam den hölzernen Wehrgang ent-lang und überprüft, immer wieder die Bewegungen der Truppen Simon de Montforts unten am Berg beobachtend, die Mauern seiner Festung. Wut und Resignation vereinen sich in seinem Gesicht, wenn seine Augen über den Rand der Brüstung die steil abfallende Felswand hinunter zu den Zelten und Feuern seiner Feinde blicken, die sich unter den spärlichen Laubdächern an der Baumgrenze verstecken. Den starken Mauern von Termes konnten die Kreuzfahrer trotz ihrer gut postierten Belagerungsmaschinerie und großen Katapulten nichts an-haben. Und wenn doch, so haben Raymonds Gefolgsleute den Schaden immer wieder schnell beheben können. Nun aber beginnt sich die Zahl seiner tatkräftigen Getreuen rapide zu verringen. Die Ruhr breitet sich seit ein paar Tagen aus und lähmt den Lebensmut der Burgbewohner. Soweit Raymond feststellen konnte, hat auch die Truppenstärke seines Feindes merklich abgenommen. Doch wohl weniger durch Entbehrungen und Krankheit als durch den Ablauf der päpstlich angeordneten Dienstzeit bei der Kreuzfahrerarmee. Nach vierzig Tagen können die, denen es einzig um den versprochenen Sündenerlass und ihre Pflichterfüllung gegenüber dem Papst geht, die Waffen niederlegen und sich auf ihre Ländereien zurückziehen, die sie als weltliche Belohnung im Kampf gegen die Ketzer erworben haben. Aber Simon de Montfort dürfte es, wie bisher, nicht schwer fallen, neue kampfbereite Männer zu finden, die ihr Ansehen vor der Kirche und ihr Vermögen mehren wollen. Er ist ja nicht von der Außenwelt abgeschnitten.
Raymond trifft auf einen seiner Posten, klopft ihm auf die Schulter und sucht seinen Blick. Die Augen des Mannes sind klar und wach. Das Fieber hat ihn noch nicht ergriffen.
„Wie geht’s, Joan?“
„Danke, Monsénher, gut“, antwortet der junge Ritter sichtlich erfreut. Die Belagerung hatte seine Erhebung in den Ritterstand beschleunigt. Als kleiner Junge ist er vor Jahren auf die Festung Termes gekommen, um als Knappe in die Dienste des Barons zu treten. Er dient ihm gerne und mit Stolz. Der Baron ist ein gerechter Herr, der alle seine Untergebenen mit Respekt behandelt und die okzitanischen Werte beispielhaft vorlebt. Er liebt und verehrt ihn darum, wie seinen eigenen Vater.
Ein einzelner Pfeil fliegt surrend an der Schulter des Burgherrn vorbei, der einen kurzen Moment nicht auf seine Deckung geachtet hat. In noch tiefer gebückte Haltung gezwungen, macht er seinem Unmut darüber aufbrausend Luft und ballt die Fäuste.
„Na truissa – Widerwärtige Drecksau! Seit nunmehr vier Monaten belagert dieser Bastard von einem Franzosen mit seinen Männern, die nichts anderes sind, als vom Papst gedungene Mörder, mein Land und brandschatzt meine Dörfer! Ich habe sie satt, diese stinkenden Kreuzfahrer! Sie verpesten die Luft, die