: Hinrich von Haaren
: Blaues Reich. Winterstadt
: Residenz Verlag
: 9783701746309
: 1
: CHF 14.40
:
: Erzählende Literatur
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Berlin vor dem Fall der Mauer, China vor dem Massaker am Tian'anmen-Platz: eine Welt voller uneinlösbarer Versprechen, eine Generation, die sich treiben lässt auf der Suche nach einem anderen Leben. Im winterlichen Berlin mit seinen dunklen Kneipen und plüschigen Cafés versuchen der Erzähler und sein bunt zusammengewürfelter Freundeskreis, eine neue Freiheit zu erfinden. In ihrem Mittelpunkt steht die schillernde Nina, die alle in ihren Bann zieht, selbst jedoch den gefährlichen Einflüsterungen ihrer inneren Stimmen ausgeliefert ist. Ein One-Way-Ticket nach Beijing wird zum Befreiungsschlag: Der Erzähler lässt alles hinter sich und reist durch ein China im Umbruch, durch ein großes, blaues Reich, in dem er vergeblich das Vergessen sucht.

Hinrich von Haaren geboren 1964 in Bremerhaven, lebt in London. Er studierte Sinologie und Germanistik in Berlin. Seine Hörspiele wurden bei Radio Bremen und im Ostdeutschen Rundfunk gesendet, dessen Hörspielpreis er auch erhielt. Hinrich von Haaren hat zahlreiche Stipendien erhalten, zuletzt war er im Künstlerhaus Edenkoben zu Gast. Er debütierte mit dem Erzählband 'Die Überlebten' (2010), 2012 erschien der hochgelobte Roman 'Brandhagen' und 2020 im Residenz Verlag der Roman 'Blaues Reich. Winterstadt'.  

Tischmanieren. Überfälle.


Ich stehe vor der grün angestrichenen Polizeistation in Wuzhou, wohin man mich vom HotelSiegreiches Volk geschickt hat. Hier soll ich mir einen örtlichen Aufenthaltsgenehmigungsschein beschaffen, ein Dokument, das mein Recht, in Wuzhou zu bleiben, amtlich bestätigt, da dem Personal im Hotel weder mein Pass noch mein chinesisches Visum geheuer sind. Nun blättert ein junger Polizist ratlos durch meinen Pass und versucht zu ermitteln, ob er den Schein wohl ausstellen darf. Er hat mir bereits eine ganze Reihe Fragen über den Grund meines Besuchs gestellt, wird aber immer wieder abgelenkt von meiner Kleidung, besonders meiner Windjacke – Nylon? wie teuer? und die Turnschuhe? wie viele Tage muss man für so was arbeiten? Darüber hinaus werden wir ständig von einem Mädchen unterbrochen, einer Polizeiangestellten, die mit verschiedenen Papieren ins Zimmer kommt und sie mit größter Wichtigkeit dem Polizisten vorlegt, wobei offensichtlich ist, dass hier nichts Offizielles, sondern lediglich ein amtliches Techtelmechtel vor sich geht. Jedes Mal verwickelt sie den Polizisten in ein kleines Gespräch, das mit viel Kichern ihrerseits und verlegenen Blicken seinerseits in meine Richtung endet. Ich lächle verständnisvoll, weil ich mir einbilde, so am besten mein Anliegen hier weiterzubringen. Doch die Zeit vergeht. Aus zwanzig Minuten wird eine Stunde, dann sind es schon vier, und ich habe die verdammte Genehmigung immer noch nicht. Schließlich rückt die Uhr auf sechs zu, es ist Zeit, Dienstschluss zu machen, und plötzlich geht alles ganz schnell. Aus seiner Schublade zieht der Polizist das passende Formular, füllt es zügig aus, legt es mir zur Unterschrift hin, versieht es mit mehreren roten Stempeln und händigt mir alles mitsamt Pass wieder aus. Keine fünf Minuten hat das gedauert. Doch bin ich damit keinesfalls entlassen, denn nun stellt der Beamte mich seinem Mädchen vor und wiederholt mehrere Male das Wort Wei Guo Ren – Ausländer –, als fürchtete er, sie habe den Unterschied zwischen ihr und mir noch nicht bemerkt. Das Mädchen sieht mich an und kichert. Der Polizist schüttelt meine Hand u