Ich werde in der Mitte anfangen und hoffe, von dort aus fortzufahren.
Samstag, 1. August. Vormittag. Aus dem Zug rieselte noch etwas Sand, als ich durch die Waggontür ausstieg, die gestern abend auf dem Bahnsteig in Cannes zugeschlagen worden war; ich folgte dem Wagen des gemächlichen Gepäckträgers durch die doppelte Zollkontrolle … Douane Française… Douane Suisse… zur Gepäckaufbewahrung in der Bahnhofshalle und ging für ein paar geschenkte Stunden in die weitläufige, helle, reiche Stadt, überall Wasser und Licht, schneehell über sommerlichem Blau. Quai des Saules, Pont du Rhône, Pont de l’Isle, Quai des Bergues: Der Genfer See, breit und offen, und dort – der Jet d’Eau, eleganteste Fontäne, weißer Wasserkomet, der sich in den Himmel schleudert …
Fünfzig Schritte landeinwärts, und alles ist wie verwandelt. Eine ältere, kleinere, in sich ruhende Welt. Die Dächer niedriger, die Fassaden schlichter, verschwunden das gleißende Licht von See und Gebirge. Platanen auf dem Platz, ein wenig Schatten, Grafikhandlungen, Blumenstände, Cafés. Frauen mit Brot gehen vorbei …
Durch gewundene Gassen in die Altstadt … klettere eine Anhöhe hinauf, stehe wieder vor Neuem – Stille, vornehme Straßenzeilen, Verwaltungsgebäude mit privaten Fassaden, Andeutungen von Gärten hinter Mauern … Und immer weiter, höher, stehenbleiben, sich treiben lassen, gehen: konzentriert und ziellos in der Art eines Reisenden, der weder Verpflichtungen noch Aufgaben hat und keine Sehenswürdigkeiten besuchen muß, der sich über unerwartete Entdeckungen freuen kann, aber weiß, dass er in der Stadt nicht übernachten wird …
Aus: Ein Schweizer Tagebuch
Nun ja … das war August 1953, doch das Tagebuch wurde nicht an jenem Tag, nicht in jenem Sommer geschrieben, sondern, mit unvermindertem Hochgefühl, im Januar des darauffolgenden Jahres, in einer Mansarde im sechsten Pariser Arrondissement, und noch heute, fünfzig Jahre später, spüre ich diese Stimmung des absichtslosen Entdeckens, die Euphorie dieser Stunden in Genf. Als ichdamals aus dem Zug stieg, war eine leise Neugier in mir, ich war allein, ungebunden … Minuten später sorgten Berge, Himmel und Wasser für ein Hochgefühl, das den ganzen Tag anhielt.
Auch während der kurzen, glühend heißen Bahnfahrt am späten Nachmittag, ein letzter, schmerzhaft heller Blick auf Genfer See und Montblanc, vorbei an den Weinbergen, an grausteinernen Schlössern und dunkelgrünen Hängen des Waadtlands, sanften Weiden, vorbei an Obstgärten, Tannen, Kuckucksuhrenhäusern, Dorfkirchen: eine Bilderbuchschweiz. Es hielt an, dieses stille Hochgefühl, begleitete mich auf dem Spaziergang durch die arkadengesäumten Straßen von Bern, das wie eine traumhafte Kinderwelt anmutete. Auch ohne das fünfzig Jahre alte Tagebuch erinnere ich mich, dass dort »nichts hässlich oder groß oder ärmlich oder schick oder neu« war. Das Hochgefühl war noch am Abend da, als ich, abermals in einem sauberen Schnellzug, in Richtung Vierwaldstätter See fuhr, in einer endlosen Dämmerung, es war da während des reichlichen Abendessens in einem billigen, namenlosen Wirtshaus, die Nacht in einem bescheidenen, unscheinba