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Harriet
Dezember
»Krass, wie vieleRestaurantketten ihr hier in der Gegend habt«, meint Iris, wobei sie das Wort »Restaurantketten« in einem Tonfall sagt, der bei den meisten Menschen wohl Begriffen wie »Terrorcamps für Kleinkinder« vorbehalten wäre. Dann grinst sie vor Stolz über ihre messerscharfe Beobachtung. »Echt wahr, oder?«
Echt wahr.
Ich trinke noch einen großzügigen Schluck Wein und spüre meine Wangen brennen. Sie findet meine Wohngegend peinlich. Sie findetmich peinlich. Alle hier finden mich peinlich. Heute Abend habe ich es ein bisschen zu gut gemeint mit dem Alkohol, das Zimmer dreht sich schon um mich. Ich starre Iris an und versuche sie scharf zu stellen.
Eigentlich, denke ich, sollte Iris lieber versuchen,mich scharf zu stellen. In Wahrheit hat sie – so wie der Rest der Anwesenden – nämlich keine Ahnung, wer ich bin. Niemand hier weiß, wozu ich fähig bin oder wie mein richtiger Name lautet. Niemand kennt mein wahres Ich. Niemand weiß, was mich ausmacht und was ich vor mittlerweile zweieinhalb Jahren getan habe, bevor sie mich kannten.
Und überhaupt, denke ich, von plötzlichem Zorn gepackt, während sich alle um mich herum seelenruhig weiter unterhalten. Ichliebe Islington. Wenn man einen sozial gehemmten Menschen nimmt und ihn ins Herz einer der belebtesten Gegenden von London verpflanzt, dann wird einem dieser Mensch auf ewig dankbar sein. Hier wird niemand genötigt, Smalltalk mit dem Fleischer zu machen. Man muss kein Lieblingsrestaurant haben, weil es sechzig verschiedene Restaurants in fußläufiger Entfernung gibt, und falls man doch eins hat, wechselt es sowieso innerhalb kürzester Zeit den Besitzer und wird zu einer Aperol-Bar umgebaut. Hier fällt es nicht negativ auf, wenn man keine Menschenseele kennt, im Gegenteil: Es ist so gewollt. Man muss hier keine Angst um seine Geheimnisse haben, denn man kann sich gut verstecken.
Doch ich erhole mich recht schnell von der Kränkung, und ein paar Drinks später rede ich mit ungerechtfertigter Selbstsicherheit von den politischen Umwälzungen im England der Achtzigerjahre, während ich gleichzeitig zu Popsongs der Zweitausender im Sitzen hin und her schunkle. Ich bin ziemlich betrunken – das bin ich oft – und lache viel, aber es ist ein hohles Lachen, weil ich die Leute, mit denen ich lache, im Grunde gar nicht kenne.
Neben mir auf dem Sofa hockt ein Mann namens Jim. Er ist »unglaublich talentiert«, schwul und lässt sich laut und wortreich darüber aus, wie introvertiert er doch sei. Mir gegenüber sitzt Maya, die sich seit zwei Stunden an ihrem Glas Pinot Noir festhält, obwohl ich schon mehrfach versucht habe, ihr nachzuschenken, damit sie ein bisschen lockerer und fröhlicher wird. Oder überhaupt irgendwie in Erscheinung tritt. Auf dem Boden, barfuß und mit angezogenen Knien, hocken Buddy und Iris. Sie wohnen in Hackney, und ich wette, in Wahrheit heißen sie Sarah und Pete und verlassen nie das Haus, ohne vorher ein Buch von Proust einzustecken, und zwar so, dass der Titel oben aus ihrer Tasche hervorschaut. Auf Iris’ glänzendem Bob sitzt freudlos ein Partyhütchen.
Ich schaue alle diese Leute an und versuche etwas dabei zu empfinden, aber da ist nich