Kapitel 2
Schießstand, Stahnsdorfer Damm, DEVA, Berlin, Mai 2019
Es war ein Dienstag im Mai, und der Sommer stand direkt vor der Tür. Einer dieser üblen, brütenden, 40 Grad heißen Sommer in Berlin, voller Schlägereien, besoffener Touristen und schlafloser Nächte, einer dieser Sommer, der gefühlt Jahre dauerte und bei dem alle wahnsinnig wurden – nur noch schlimmer als in den letzten Jahren. Als auch schon die Seen austrockneten, die Wälder verbrannten, die verkrachten Existenzen sich die ganze Nacht prügelten und die alten Menschen in den Heimen reihenweise starben.
Winter is coming, war die ewige Drohung in dem Fantasy-Epos »Game of Thrones«, doch der Berliner Winter war in den letzten Jahren, mit ein paar kalten Tagen im Februar, komplett harmlos geworden.Summer is coming war in diesem Jahr – und würde es wahrscheinlich auch in allen kommenden Jahren sein – die reale Drohung in Berlin.
Clara überprüfte die Magazine, die Munition. Vor ihr auf dem Tisch lagen die Glock Kaliber 9 Millimeter Luger und die Sig Sauer. Vor ihnen der Schießstand und die Zielscheiben. Auf dem Sandboden blitzten von Zeit zu Zeit Patronenhülsen. Gedämpfte Schüsse klangen durch die Ohrschützer, vermischt mit Vogelgezwitscher aus dem nahen Wald. Denn mit den 3M-Ohrschützern konnte man leise Geräusche besser hören, während der Knall einer Pistole gedämpft wurde. Deswegen waren diese Ohrschützer auch bei Jägern sehr beliebt. Clara dachte kurz an den uralten Sommerhit »Vamos a la Playa« aus Italien von 1983. Die meisten glaubten, der Song beschreibe einen heißen Sommer, dabei handelte es sich, wenn man sich den Text einmal genauer anschaute, um die Beschreibung eines Strands nach einer Nuklearexplosion. Der Schrecken war halt überall, auch in einem schönen Strandlied.
Doch noch war Frühling, und es war Dienstag, und Clara war im Dienst. Am Montag war der Schießstand geschlossen. Dafür war er am Sonntag geöffnet.»Sunday is gunday«, sagte man in Amerika. Oder»gun is fun«.
»Du zuerst?«, fragte Clara. Sie wusste, dassgun nicht unbedingtfun bedeuten mussten, sondern die schlimmsten Verletzungen hervorrufen konnten. Sie wusste aber auch, dass die Tatsache, niemals etwas mit Waffen zu tun haben zu wollen, einen nicht davor beschützte, von einer Waffe getötet zu werden.
Sophie nickte. Sie war Claras Kollegin und arbeitete dem LKA im Team der Rechtsmedizin zu. Sie hatte als Rechtsmedizinerin noch nicht so viel geschossen wie Clara und auch längst nicht so viel Erfahrung auf dem Schießstand, wollte es aber lernen. Ihr Freund, Frank Deckhard, der auch Polizist war, hatte sie einmal mit auf den Schießstand genommen, um ihr alles ein bisschen beizubringen. Die beiden hatten sich allerdings bereits während der ersten Übungsstunde derart gestritten, wie es halt oft passierte, wenn Partner einander etwas beibringen wollen, dass Sophie sich danach an Clara gewandt und Clara ihr versprochen hatte, sie beim Schießenlernen ein wenig zu unterstützen.
»Hast du die Ohrschützer angestellt?«, fragte Clara.
»Denke schon«, antwortete Sophie, »es hat eben gepiept.«
»Reib dir die Hände«, sagte Clara. »Wenn du das Reiben laut hörst, dann sind die Dinger an.«
Sophie rieb sich die Hände. »Höre ich«, stellte sie fest. »Und die Vögel höre ich auch.«
»So soll es sein. Dann aufstellen!«
»Fünf Meter?«
Clara nickte. »Okay.«
Heute übten sie mit einer Sig Sauer, weil das die Waffe der Berliner Polizei war. Hart, kompakt, zuverlässig. Die J.P. Sauer GmbH war aus der 1751 gegründeten Waffenmanufaktur Lorenz Sauer hervorgegangen. SIG stand für »Schweizerische Industrie Gesellschaft«, zu der das Unternehmen rund dreißig Jahre gehört hatte. Ansonsten schoss Clara mit einer Glock. Sechzehn Schuss, Kaliber 9 Millimeter Luger, aus Österreich. Die Lieblingswaffe der US Police.»Our Austrian friend«, sagten die US-Polizisten dazu. Und Clara Vidalis musste ihnen recht geben. Die Waffe schoss wirklich gut und war leicht. Dafür hatte sie mehr Rückstoß, weil sie mit siebenhundert Gramm weniger wog als die schwereren Waf