Mittwoch
Mittwoch,11. September,14 Uhr
München
Julia Durant fühlte sich verloren.
Sie stand neben Pastor Aumüller, einem Kollegen und Freund ihres Vaters, auf einem der kleineren Friedhöfe in einem Außenbezirk.
»Julia!« So hatte der alte Mann sie begrüßt. Das knappe Dutzend Trauergäste, die sich hier offenbar kaum weniger unwohl fühlten, waren ihm mit den Blicken gefolgt. Der alte Pastor wankte auf sie zu, sichtlich unter Schmerzen. Durant kannte ihn als guten Freund ihres Vaters schon das ganze Leben. Er musste die achtzig längst hinter sich gelassen haben.
»Schön, dass du gekommen bist!« Er fasste nach ihren Händen. »Es ist ein Jammer. Aber trotzdem schön. Niemand sollte allein vor unseren Schöpfer treten.«
Allein war er ja nun nicht, dachte die Kommissarin.
Und sie konnte es immer noch nicht fassen, dass sie tatsächlich hier war.
Die Glocke der Friedhofskapelle schlug, ein heller, unangenehmer Klang. Fast so, als wolle er dem Gehirn noch einmal mit aller Deutlichkeit einbläuen, dass es einen Menschen weniger gab. Jemanden, dem man nachtrauerte. Den man geliebt hatte.
Ja, verdammt noch mal, sie hatte ihn geliebt! Er war ihre erste große Liebe gewesen. Sie hatten eine wundervolle Zeit miteinander gehabt, sie hatten eine Traumhochzeit gefeiert. Doch in Julia Durant regten sich weder Trauer noch Liebe, zumindest nicht an erster Stelle. Alles, was sie spürte, wurde überlagert von einem lähmenden Gefühl von Enttäuschung. Und Wut.
Über viele Jahre hatte sie ihn nicht vergessen können, sosehr sie es sich auch gewünscht hatte. Sein Schatten schien über jeder Beziehung zu liegen, die sie eingegangen war. Schien sie zu vergiften, als wolle er noch immer die Kontrolle über sie ausüben. Auch wenn er es gewesen war, der alles vor die Wand gefahren hatte.
Jemand zupfte an ihrem Ärmel. Es ging los.
Pastor Aumüller nahm sie mit ins Innere der Kapelle. Von den wenigen Anwesenden hoben manche den Kopf. Vereinzelt nickte man Aumüller zu. Vorne, auf einem flachen Podest, wartete eine schlichte Urne. Zwei Blumensträuße, weiße Gerbera und rote Chrysanthemen, aufgelockert durch ein paar Efeuranken. Die Gebinde glichen sich bis ins Detail, ein goldener Aufkleber ließ auf die Blumenhandlung schließen. Allem Anschein nach hatte man nicht das teuerste Bestattungsunternehmen gewählt. Während ein junger, fremder Pastor sich eine gestelzte Totenrede abrang, hing die Kommissarin ihren Gedanken nach.
Ihr Gespräch mit Claus Hochgräbe vor ihrer Abreise lag ihr noch im Ohr.
»Ich kann doch jetzt nicht nach München fahren!«, hatte sie gerufen.
»Wenn es wichtig ist …«
»Wir haben ein unidentifiziertes totes Mädchen, so jung, dass da irgendwo verzweifelte Eltern sein müssen. Wahrscheinlich bangen sie seit Tagen.Das ist wichtig!«
Hochgräbe war der neue Leiter des Kommissariats11, Gewalt-, Brand- und Waffendelikte. Auch er stammte aus München, hatte dort Karriere gemacht und wäre Julia, wenn sie der Stadt nicht vor langer Zeit den Rücken gekehrt hätte, ganz sicher auch begegnet. Stattdessen war sie vor Ewigkeiten fortgegangen, und trotzdem hatte das Schicksal sie zusammengeführt – vor einigen Jahren, im Zuge einer übergreifenden Ermittlung. Die beiden hatten sich danach mehrmals getroffen und waren einander nähergekommen. Hochgräbes Versetzung nach Frankfurt war also aus gegensätzlichen Gründen erfolgt als Durants Flucht aus der Bayernmetropole. Beides aber waren Beziehungstaten: Er war um der Liebe willen gegangen, sie war aus enttäuschter, verletzter Liebe geflohen. Es hatte Jahre gebraucht, bis Julia ihre Heimatstadt wieder halbwegs entspannt besuchen konnte, ohne hinter jeder Straßeneckeihn zu sehen. Oder, was noch schlimmer war, eine seiner dutzendfachen Eroberungen.
Julias Ex-Mann Stephan hatte so ziemlich jede Frau ins Bett bekommen, die er wollte. Und er wollte viele. Zuerst nahezu die gesamte weibliche Belegschaft seiner Firma. Und dann wahrscheinlich noch deren Schwestern und Cousinen, ja, und am besten auch noch deren Mütter.
»Wenn es doch sein letzter Wunsch gewesen ist.« Claus Hochgräbe war ruhig geblieben, während sie ihre Wut an einem Korb mit getrockneter Wäsche ausließ.
»Sein Wunsch!«, bellte sie verächtlich. Natürlich. Sein Leben schien ihr mal wieder diktieren zu wollen, was sie zu tun hatte.
Eine halbe Stunde später – sie hatte es aufgegeben, in dieser Rage T-Shirts zusammenzulegen – kauerte sie mit Claus auf der Couch. Er hatte