: Nicole Winter
: Die Dünenvilla Roman
: Verlagsgruppe Droemer Knaur
: 9783426454794
: 1
: CHF 6.50
:
: Historische Romane und Erzählungen
: German
: 448
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wo Träume eine neue Chance bekommen: die opulente Auswanderer-Saga um eine deutsche Arzt-Familie auf Martha?s Vineyard, dem »Sylt der US-Ostküste« Martha?s Vineyard 1884: Weil ihn die langen Sandstrände und sanften Dünen an die heimische Ostsee erinnern, wählt der deutsche Arzt Friedrich Böhm die Insel vor der Ostküste der USA als Standort für sein Sanatorium. Hier will der Auswanderer seiner Familie eine neue Zukunft aufbauen. Doch Böhms Sohn Thomas hat nur widerwillig Medizin studiert, viel lieber würde er sich der aufstrebenden Psychologie zuwenden. Und seine Tochter Sophia sieht mit ihrem gelähmten Bein keine Perspektive im Leben - wozu könnte sie schon nützen, und welcher Mann sollte eine behinderte Frau lieben? Als sie sich jedoch in den Naturforscher Scott verliebt, wird ihr Mut erneut auf eine schwere Probe gestellt, denn Scott will keinesfalls auf Martha?s Vineyard bleiben. Sein Herz gehört dem auf immer verlorenen alten Westen der USA mit seinen riesigen Büffelherden und Schwärmen von Wandertauben, die den Himmel verdunkeln. Kann die Zukunft eine Chance haben, wenn man die Vergangenheit nicht loslassen kann? Nicole Winter ist selbst mit 24 Jahren nach Kanada ausgewandert. Die Auswanderer-Saga um die deutsche Familie Böhm ist ihr erster Roman.

Nicole Winter ist das Pseudonym einer nach Kanada ausgewanderten Hamburgerin, die als Literaturübersetzerin an den Quellseen des Yukon River in der Wildnis lebt.


Untergang


1


Boston, 17. Januar 1884

Sophia Böhms Koffer verweigerte den Dienst. Mehr als randvoll mit Romanen, Gedichtbänden, Malblöcken, Pinseln, Aquarell- und Ölfarben, Zeichenkohle und immerhin auch zwei Kleidern, wollte das lederne Ding seinen Deckel partout nicht schließen lassen, selbst als sie sich daraufsetzte. Mit ausgestreckten Beinen auf einem Koffer zu thronen war zwar alles andere als damenhaft, aber es sah sie ja niemand. Ein paar Zimmer weiter trugen ihr Vater und Bruder sicherlich ähnliche Kämpfe aus. In der Ecke hakte die Standuhr mit dem Buntglaseinsatz die Minuten bis zum Abschiedsessen ab. Beim Gedanken an die Zukunft krampfte sich Sophias Magen zusammen.

Besser nicht mehr grübeln. Sie zwang ihre Aufmerksamkeit zurück auf den Koffer und versuchte, das Knirschen unter sich zu ignorieren. »Du Biest!«

»Sprichst du mit mir?« Ihre Zwillingsschwester Julia, die sich vor dem Spiegel die dunkelroten Haare für die Reise hochsteckte, drehte sich zu ihr um.

»Nein, mit mir selbst. Mit dem Koffer.« Sie betastete ihre am Morgen nur nachlässig zu einem Dutt zusammengeschlungenen Haare. Aber wenn sie sich von der Droschke direkt in ihre Kabine auf dem Dampfer begab, könnte das Frisieren bis dahin warten. Im Grunde spielte es auch keine Rolle, denn sobald sie einen Fuß vor den anderen setzte, sah ihr ohnehin niemand mehr auf den Kopf. Stattdessen hefteten die Blicke sich sofort auf ihren Rock, dann auf den als Sonnenschirm getarnten Gehstock, und sie wurde für andere unsichtbar.

Julia zog eine Augenbraue hoch. »Und was sagt dein Koffer?«

»Dass ich zu viel eingepackt habe.«

»Warum lässt du nicht die Hälfte der Bücher hier? Den Koffer kann ja kein Mensch tragen. Die Bücher kann Onkel Heinrich uns doch mit dem Rest vom Hausrat nachschicken, wenn wir in Savannah ein Haus gefunden haben. Und willst du wirklich sämtliche Malsachen mit an Bord nehmen?« Julia steckte die letzte Haarnadel fest. Energisch scheuchte sie ihre Schwester ein Stück zur Seite, lüpfte den Rock ihres taubengrauen Reisekleids und ließ sich neben Sophia auf den Kofferdeckel plumpsen. Der ächzte erschöpft und senkte sich um weitere zwei Zentimeter.

»Zum Umpacken ist nun keine Zeit mehr«, wich Sophia ihr aus, um eine weitere fruchtlose Diskussion über das Malen zu vermeiden. Julia würde entsetzt sein, wenn sie ihr gestand, was sie vorhatte, und sie war die Gespräche müde, in denen alle auf sie einredeten wie auf ein krankes Pferd. Ihr Blick schweifte durch das Gästezimmer, das Onkel Heinrich und Tante Emily ihnen so behaglich eingerichtet hatten. Kahl wirkte es jetzt. Das Schränkchen mit der Glasfront war ausgeräumt, der Kirschholztisch im Fenstererker abgeräumt, und Julias Koffer stand bereits neben der Tür.

»Komm, stärker, gleich haben wir den Deckel zu«, sagte Julia. Die Standuhr surrte, wie sie es kurz vor dem Gongschlag immer tat. Im Flur wurden Stimmen laut.

Die Schwestern stießen sich ein Stück vom Boden ab und ließen sich im selben Moment erneut auf den Kofferdeckel fallen, in dem die Uhr die Stunde schlug und es an der Tür klopfte. Mit einem Stoßseufzer klappte Sophia die Kofferschnallen zu.

»Julia! Sophie!«, rief ihr Vater. »Mittagessen, und lasst die Tür offen, dass der Kutscher eure Koffer holen kann.«

»Wenn die Köchin und die Magd mit anfassen, bekommt er deinen vielleicht sogar die Treppe hinuntergewuchtet«, murmelte Julia, stand auf und zog Sophia auf die Beine.

***

Unten im Esszimmer saßen bereits alle in Abschiedsstimmung bei Tisch: Ihre sechzehnjährige Cousine Clara wirkte blass, Onkel Heinrich zupfte an den Manschetten seines Hemds herum, und T