2 Hohenmölsen I
Badewannen und Zigarettenstummel
Bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr hatte ich noch nicht viel von der Welt gesehen. Als Jugendlicher war ich mit der Familie hin und wieder am Balaton gewesen, ansonsten war meine Landkarte weiß. Ich bin im Osten Sachsen-Anhalts aufgewachsen: Hohenmölsen, das Herz derDDR. Zumindest für mich damals.
Flankiert wurde die Stadt von den großen Tagebaugruben Profen und Pirkau, die umliegenden Ortschaften hatten Namen wie Groitzsch, Neukieritzsch oder Großkorbetha. Im Sommer roch die Luft nach Stroh, im Winter nach Kohle. Tiefste sachsen-anhaltinische Provinz.
Meine Mutter war in Karlsbad, Böhmen, geboren. Doch nach dem Krieg hatte man sie und ihre Familie vertrieben. Gemeinsam mit einigen anderen Deutschen wurden sie in einen Viehwagen gesperrt und fortgeschafft. Nächster Halt: Hohenmölsen. Familie Clemens, die Linie meines Vaters, war dagegen urhohenmölsisch. Generationen von Schmieden und Braunkohlekumpeln. Mutter und Vater trafen sich zum ersten Mal beim Tanzen: im Gasthof Lubert. Der Eintritt betrug damals ein paar Barren Brikett, um den Saal zu beheizen, doch die beiden entfachten ein ganz anderes Feuer. Elf Jahre später zeugten sie mich.
Ich besuchte die Hohenmölsener Krippe, den Hohenmölsener Kindergarten, die Unter- und Oberstufe der Polytechnischen Oberschule Hohenmölsen, ein Leben auf 75 Quadratkilometern. Nachdem ich meinen Schulabschluss erlangt hatte, machte ich eine Lehre zum Installateur; Gas, Wasser, Heizung. Die Ausbildung absolvierte ich bei der Produktionsgenossenschaft der Handwerker, mein oberster Chef war mein eigener Vater. Die Arbeit lag mir. Ich hatte Spaß am Lernen, vor allem aber liebte ich die Hausbesuche. Wenn man damals als Handwerker in einen Familienhaushalt kam, ließ die Arbeit für gewöhnlich erst mal auf sich warten. Zunächst wurde gefrühstückt. Und ich meine ein richtiges, zünftiges Mahl, keinen lauwarmen Kaffee, der einem hastig im Badezimmer auf den Rand des Waschbeckens gestellt wurde. Man kam ins Gespräch, tauschte sich über Gott und die Welt aus. Wenn ich beim Fleischer einen Abfluss zu wechseln hatte, bekam ich einen Rucksack voller Würste mit nach Hause. Eine der Kehrseiten der Arbeit war zwar, dass wir häufig am Wochenende ausrücken mussten, doch ich wusste, je mehr ich arbeitete, desto mehr Geld würde ich verdienen – und das war nicht unbedingt üblich in derDDR.
1986, sechs Jahre nach der abgeschlossenen Lehre, übernahm ich einen eigenen Betrieb. Bald hatte ich zwei Angestellte, dazu einen Lehrling, und kümmerte mich fast nur noch um die An- und Verkäufe. Das Geschäft bestand damals noch zum größten Teil aus Handeln und Feilschen, »Kompensationsgeschäfte« nannte man das. Frühmorgens fuhr ich mit einem großen Stück Schinken auf dem Beifahrersitz meines Ladas los, und abends kam ich mit einem Auto voller Badewannen, Armaturen, Heizkörper und Waschbecken zurück. Den Schinken bekam ich hin und wieder von meinem Schwager, der Fleischer war, und gleich auf meiner ersten Station, Reichenbach im Vogtland, konnte ich einen beträchtlichen Teil davon gegen einige Kisten Wernesgrüner Bier eintauschen. Wernesgrüner war flüssiges Gold damals, fast so schwer zu bekommen wie Radeberger. Mit dem erhandelten Bier fuhr ich nun nach Wallhausen, wo ich es gegen farbige Wasch- oder Klobecken tauschte. Anschließend fuhr ich nach Eisenberg, um mit der erhaltenen Ware verchromte Armaturen zu erhandeln. Schließlich ging es nach Boizenburg an der westdeutschen Grenze für ein paar Fliesen – und dann gelegentlich noch nach Thale in den Harz, um ein oder zwei Heizkessel zu besorgen.
Natürlich konnte man nicht jeden Handel einzig und allein per Tauschgeschäft abschließen, selbstverständlich wurde