Die „Versuchung“
nach einer Erzählung von R. Sprung
Es war im Winter 1946, am ersten Advent. Meine Frau hatte unseren letzten Damastbezug mit zwei Kopfkissen bei einer Fahrt aufs Land eingetauscht. Ein Pfund Mehl, ein viertel Liter Öl und eine Handvoll Zucker waren davon noch übrig. Sie hatte mir nichts davon gesagt. Es sollte eine Überraschung werden. Und es wurde eine. Allerdings anders, als wir es uns beide gedacht hatten. Ich wog damals ganze 104 Pfund und litt beständig an einem nagenden Hungergefühl.
Am Abend vor dem ersten Advent sagte meine Frau beim Schlafengehen: „Morgen backe ich einen Kuchen.“ Sie lachte dabei, und ich dachte, sie scherzte nur. Aber in der Nacht träumte ich vom Kuchen. Als ich am Morgen erwachte, war das Bett neben mir leer und – die ganze Wohnung roch nach frisch gebackenem Kuchen. Ich lief zur Küche hinüber. Da stand das Wunderwerk auf dem Tisch, braun und knusprig, und meine Frau stand daneben und strahlte übers ganze Gesicht. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich mich sogleich hingesetzt und den Kuchen angeschnitten. Aber davon wollte sie nichts wissen. Frauen haben vom Feiern so ihre eigenen Vorstellungen. Nachmittags wollte sie den Tisch mit Tannengrün schmücken, die erste Kerze anzünden, das gute Geschirr aus dem Schrank nehmen und schwarzen Tee kochen, den sie ebenfalls eingehandelt hatte. Und dazu sollte es den Kuchen geben. Zum Frühstück gab es Maisbrot mit Rübenmarmelade und schwarzer Kaffeebrühe. Danach zogen wir unsere Mäntel an und gingen zum Gottesdienst.
Vor der Kirchentür trafen wir mit den Müllers zusammen. Wir hatten die Müllers im vergangenen Winter in der Bibelstunde kennengelernt und sie seitdem nur einige Male von weitem gesehen. Eine flüchtige, oberflächliche Bekanntschaft. Sie hatten nie besonders gut ausgesehen, aber an jenem Morgen glichen sie, blass und abgemagert, Schwindsüchtigen im letzten Stadium. Der Hunger schien ihnen übel mitgespielt zu haben. Wahrscheinlich ging meiner Frau der Anblick der beiden Elendsgestalten ebenso zu Herzen wie mir, denn sie sagte sogleich, kaum dass wir uns die Hände geschüttelt hatten: „Besuchen Sie uns einmal. Aber recht bald. Sie würden uns eine große Freude damit machen.“ Die Augen in Frau Müllers magerem Gesicht begannen zu strahlen, und Herr Müller lächelte. Sie nahmen die Einladung dankend an.
Während der Predigt wurden meine Gedanken mit magnetischer Kraft zum Kuchen gezogen. Hunger ist wie eine Krankheit. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, aber ich kam einfach nicht vom Kuchen los.
Zu Mittag gab es Kartoffelsuppe: rohe Kartoffeln in kochendes Wasser gerieben. Der zweite Gang bestand aus einem Klecks „weißer Taube“ – mit Wasser angerührter Magermilchquark und einer aufgelösten Süßstofftablette darüber. Nach dem Essen sagte meine Frau, ich solle mich ein Stündchen hinlegen. Sie wolle inzwischen die Stube ein wenig herrichten und mich rufen, sobald alles fertig sei.
Endlich war es dann so weit. Die Stube roch nach Kerzen und Tannengrün. Das gute Geschirr stand auf dem blütenweißen Damasttuch und der Tee kochend heiß unter der Haube. Meine Frau nahm das Messer, um den Kuchen anzuschneiden – da schrillte die Klingel. Wir saßen sekundenlang erstarrt. Dann, als es zum zweiten Mal klingelte, erhob sich meine Frau, schlich auf Zehenspitzen zur Tür und warf einen verstohlenen Blick durch den Spion.
„Die Müllers“, sagte sie erbleichend, „hätten wir doch heute Morgen …“ – „Vielleicht gehen sie wieder weg“, gab ich zu bedenken, obwohl ich nicht daran glaubte. Beim dritten Klingelton schlich ich auf Strümpfen zur Tür. „Sie sind nicht zu Hause“, hörte ich Frau Müller sagen. Ihre Stimme klang so enttäuscht, da