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Als Lukas aufwachte, war der Schlunz nirgendwo zu sehen. Sein Bett war leer. Was hatte denn das nun wieder zu bedeuten? Heute war doch der erste Schultag vom Schlunz. Er würde doch nicht abgehauen sein?
Nein. War er nicht. Von unten hörte er ihn schon rufen: »Lukas! Komm endlich! Wir müssen los!«
Lukas schaute auf seinen Wecker: zehn nach sieben. Es reichte völlig, wenn sie um zwanzig vor acht das Haus verließen. Um acht begann die Schule und länger als eine Viertelstunde brauchten sie nie für den Schulweg. Was um aller Welt wollte der Schlunz jetzt schon so früh unten im Flur?
»Lukas«, kam es noch lauter von unten. »Komm!«
Lukas schlug die Bettdecke zurück, verließ sein Zimmer und schaute vom oberen Treppenabsatz nach unten in den Flur. Da stand der Schlunz, geschniegelt und gebügelt mit der neuen Jeansjacke, die Mama ihm letzte Woche extra für den Schulanfang gekauft hatte. Seine langen, dunklen Haare waren so ordentlich gekämmt, dass sich Lukas einen Augenblick lang fragte, ob er sich die Haare mit Gel an den Kopf geklebt hatte. Trotzdem fiel ihm wie immer die eine oder andere Strähne ins Gesicht und verdeckte sein linkes Auge zur Hälfte. Auf dem Rücken trug er den Schulranzen, den er sich hart erkämpft hatte: mit grün-braun geflecktem Muster.
»Da bist du ja endlich!«, rief Schlunz. »Los, zieh dich an. Wir kommen zu spät.«
Nele war längst fertig mit essen, als Lukas einige Minuten später angezogen am Frühstückstisch saß, und Schlunz war ja sowieso schon seit einer halben Stunde bereit loszugehen.
»Ich bin ja so aufgeregt«, rief Nele andauernd und wedelte dabei mit ihren Fäusten herum. Dass sie vom Marmeladenbrot immer noch einen Bart von einem Ohr bis zum anderen hatte, war ihr gar nicht aufgefallen.
»Und ich soll wirklich nicht mitkommen?«, fragte Mama.
»Mama, Schlunz kommt nicht in den Kindergarten, sondern in die vierte Klasse«, sagte Lukas und verdrehte die Augen. Wie sollte das denn aussehen, wenn Lukas mit seiner Mama zusammen auf dem Schulhof auftauchen würde! Es war schon schlimm genug gewesen, als sie letzte Woche mit Schlunz beim Schulleiter gewesen war, um ihn anzumelden. Da hatte sie in der großen Pause über den ganzen Schulhof »Lukas!« gerufen und ihm zugewinkt. Lukas wäre am liebsten im Erdboden versunken.
Der Schulleiter hatte übrigens gesagt, im Unterricht sollte der Schlunz einen bürgerlichen Namen bekommen. »Schlunz« könnte ja wohl unmöglich in den Unterlagen verzeichnet werden. Mama hatte daraufhin irgendeinen Allerweltsnamen vorgeschlagen wie Benjamin Schmidtsteiner oder so. Aber Schlunz hatte auch da seine festen Vorstellungen gehabt. Reiner Schlunz wollte er heißen. Zuerst wollte Mama ihm das energisch ausreden. Kein Kind hieß heute Reiner, meinte sie. Aber Schlunz blieb dabei. »Ich bin doch durch und durch ein reiner Schlunz«, beharrte er, »also kann ich ja wohl auch so heißen.« Und wenn die Kinder ihn ganz frech beim Nachnamen anredeten, wie das in Lukas’ Klasse bei einigen der Fall war, dann würde sich letztlich gar nichts ändern.
Um halb acht verließen sie das Haus im Lerchenweg 6: Lukas Schmidtsteiner, seine Schwester Nele, die immer noch aufgeregt hüpfte und mit den Händen wedelte, und der Schlunz, der ab heute Reiner Schlunz heißen sollte. Zumindest in der Schule.
Sie hatten gerade durch das Gartentor den Gehweg betreten, als der Schlunz plötzlich wie vom Donner gerührt stehen blieb und in Richtung Kreuzung starrte.
»Was ist?«, fragte Nele, die das als Erstes bemerkte.
»Da vorne«, sagte Schlunz, ohne sich dabei zu bewegen.
»Wo denn?«, fragte Nele und schaute in die Richtung, in die Schlunz starrte. »Was denn?«
»Das Auto da! Das kenne ich!«
»Was?«, rief Lukas aufgeregt. Sollte da etwa die echte Familie von Schlunz auf ihn warten? Die Familie, die er nun schon seit vielen Wochen suchte und von der es bisher n