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Lukas hatte gar nicht gemerkt, wie Nele und Mama dazugekommen waren. Aber nun standen sie schon eine Weile schweigend nebeneinander und schauten zu, wie Papa diesen fremden Jungen in seinen Armen wiegte, als wäre er ein armes, verzweifeltes Baby. Mama und Papa schauten sich kurz an. Wie so oft schienen sie mit den Augen mehr abzusprechen als andere mit tausend Worten. In der einen Sekunde, in denen sie sich ansahen, schien Papa ihr erklärt zu haben, was vorgefallen war, warum er diesen Jungen nun im Arm hielt und was Mama nun am besten zu tun hätte. Und Mama schien in der einen Sekunde das alles kapiert zu haben. Denn sie setzte sich schweigend neben Papa und strich diesem kleinen Landstreicher liebevoll über die verschmierten, verschwitzten Haare.
Immer und immer wieder.
Als der Junge sein Gesicht von Papas Hemd hob, sah Lukas, wie dreckig er war. Lukas konnte nicht erkennen, ob der Junge unter dem Dreck noch eine andere Hautfarbe hatte. Seine Augen waren dunkel. Seine Gesichtszüge waren weich. Nicht wie die eines Landstreichers oder eines Menschen, der sein ganzes Leben nur im Wald verbracht hatte.
Der Junge schaute Lukas lange an. Dann schaute er zu Nele. Nele gelang natürlich sofort ein Lächeln. »Hallo«, sagte sie, »ich heiße Nele.«
»Und wie heißt du?«, fragte Mama. Der Junge schaute sie an, als wollte er die Antwort mit seinen Augen geben. Dann sah er wieder zu Lukas, danach zu Nele.
»Wie heißt du, hm?«, wiederholte Nele, als ob sie es hier mit einem sehr kleinen Kind zu tun hätte.
»Ich heiße Jens«, sagte Papa, als der Junge wieder zu ihm hochschaute. »Jens Schmidtsteiner.«
Der Junge schaute wieder zu Mama.
»Ich heiße Ute Schmidtsteiner«, fügte sie hinzu, sprach dabei aber so langsam und deutlich, als sollte er ihr die Worte von den Lippen ablesen. »Kannst du uns verstehen?«
Wieder schaute der Junge von einem zum anderen und schmiegte sich schließlich wieder an Papas Bauch.
»Ich heiße Lukas«, sagte Lukas und sah dabei unter sich. Er spürte, wie er eifersüchtig wurde. Dieser fremde Junge hatte nun schon so lange auf Papas Schoß gesessen. Aber wenn Lukas Papa bat, mit ihm fünf Minuten Fußball zu spielen, musste er ziemlich lange bitten und betteln.
»Lass mich mal deinen Fuß anschauen«, sagte Papa schließlich und wandte sich dem angeknacksten Bein des Landstreichers zu.
»Aua«, machte der Junge, als Papa den Fuß ein wenig drehte.
»Na, stumm bist du ja schon mal nicht«, meinte Papa lächelnd und drehte den Fuß weiter vorsichtig hin und her. »Wo tut es denn weh?«
Nach ein paar Versuchen kam Papa zu dem Ergebnis: »Damit kannst du schlecht weiterlaufen. Ich werde dich tragen, ist das okay?«
Als Antwort darauf schlang der Junge seine Arme um Papas Hals. Das war wohl das Zeichen, dass Papa ihn nun hochheben und tragen durfte. Papa stand auf.
»Und taub scheinst du auch nicht zu sein. Willst du denn jetzt sagen, wie du heißt?«
Aber der Junge hatte es sich auf Papas Arm bequem gemacht und legte seinen Kopf auf Papas Schulter.
Mama und die Kinder erhoben sich ebenfalls und schlugen den Weg um das Wäldchen herum zu ihrem Picknicklager ein.
»Wo kommst du denn her?«, fragte Mama. »Wo sind denn deine Eltern?« Und nachdem immer noch keine Antwort kam: »Bist du ganz allein hier im Wald? Wo wohnst du denn?«
Aber der Junge blieb stumm.
»Vielleicht ist der Junge als Baby im Wald ausgesetzt und von Wölfen großgezogen worden«, sagte Nele.
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