Kapitel 28
Attentat auf Günter Bleibel41
Der deutschstämmige US-amerikanische Biochemiker und Nobelpreisträger Günter Bleibel ist tot. Ein unbekannter Attentäter hat Bleibel in Wien erschossen. Bleibel erhielt 2019 den Nobelpreis für Medizin für die Entdeckung der in Proteinen eingebauten Signale, die ihren Transport und die Lokalisierung in der Zelle steuern. Bleibel hielt sich auf Einladung der österreichischen Regierung für mehrere Tage in Wien auf. Das Attentat auf ihn wurde während eines Spazierganges auf dem Wiener Naschmarkt verübt. Trotz sofortiger großräumiger Sperren und Kontrollen konnte der Schütze, der von einem der umliegenden Häuser einen gezielten Schuss auf Bleibel abgegeben hatte, nicht gefasst werden. Die Hintergründe des Attentates sind völlig unklar. Gerüchte besagen, dass der vielfach ausgezeichnete Top-Mediziner in den letzten Jahren bei Artemis, einem umstrittenen Projekt zur Erforschung von Gedankentransmissionen, mitgewirkt hat. Dieses Projekt erforscht die Möglichkeit, Gedanken von Menschen auf riesige Datenspeicher zu speichern und dort zu verknüpfen. Günter Bleibel, dessen Großeltern 1945 vor der anrückenden Roten Armee aus dem heimatlichen Schlesien geflohen sind, wurde 77 Jahre alt. Er hinterlässt eine Frau und einen erwachsenen Sohn.
DWP Dostowski World Press, Norilsk, Russia, 27. November 2056.
Kapitel 29
Gehen Sie und töten Sie. Dann leben Sie.
Achtzehn Morde. Alles Männer. Wahrscheinlich haben manche von ihnen den Tod verdient, genau weiß ich es natürlich nicht, aber jeder einzelne Mord war eben ein Mord. Der erste war der schwierigste.
Leo J. Carol. Ich war damals 37 Jahre alt. Ein Menschenleben auslöschen, Gott spielen, ein Leben beenden mit einem Schuss, das setzt einem zu. Ich hatte keine andere Wahl und mir wurde gesagt, dass meine Zielperson viel Grauen anrichten würde, wenn sie nicht getötet werde. Nach Leo J. Carol kamen Wladimir Grusinski, Anatoli Vormenko, Michail Tschadarkovsky, Igor Garagin42, Thomas Halliborton43, Frank Steinmüller44, Angelo Bastardi45, bis hin zum jüngsten Mord an Günter Bleibel im November 2056. Ich war Ende dreißig. So viele Aufträge, so viele Morde in nur zwei Jahren. Alle Ermordeten waren böse, sagte man mir. Alle Zielpersonen arbeiteten an geheimen Projekten. Man müsse sie ausschalten, bevor es zu spät sei.
Vielleicht war es nur ein taktisches Verhalten meiner Auftraggeber, der Organisation. Man wollte mir mein schlechtes Gewissen nehmen, klar, und es funktionierte auch.
Der zweite Mord, Wladimir Grusinski, war gleich schlimm wie der erste an Carol. Jetzt war ich eine Mehrfachmörderin. Ich dachte, es würde mit jedem Mord etwas leichter werden, aber das stimmte nur bedingt, ich fühlte mich schlecht nach jedem abgeschlossenen Auftrag, nachdem er beendet war, wenn ich zuhause war und mich ins Badezimmer einschloss und wieder Frau wurde, nachdem ich die erlernte Schale der Berufskillerin abgelegt hatte, wenn ich in die Einsamkeit einer Mutter, spät am Abend, hineingeworfen wurde, da kam es aus mir heraus, die Tränen, die Verzweiflung, die mich lähmte, die mich stundenlang wach im Bett liegen ließ, immer wieder stand ich auf, ging auf die Toilette und musste mich übergeben, und ich hatte gar nichts mehr im Magen, aber ich hatte einen unkontrollierten Brechreiz, meist kam nur ein gelb-rötlicher Schleim heraus, wahrscheinlich eine Mischung aus Speichel, Blut und Magensaft. Dann legte ich mich wieder hin und wollte schlafen, aber ich hörte immer wieder den Schuss, sah immer wieder meine Hand am Abzug. Wie kann mir Gott jemals verzeihen, wenn ich mir anmaße, Leben auszulöschen? Gäbe es keinen anderen Ausweg? Ich könnte doch mein verdorbenes, gescheitertes Leben und das junge Leben meiner Kinder beenden. Selbstmord. Wäre das nicht anständiger, als all die Leute zu ermorden? Und irgendwann werden es meine Kinder erfahren und sie werden es nicht verstehen, sie werden mich hassen und ich werde nichts, gar nichts vorbringen können zu meine