: Paul Theroux
: Auf dem Schlangenpfad Als Grenzgänger in Mexiko
: Hoffmann und Campe Verlag
: 9783455008128
: 1
: CHF 13.50
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 432
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der US-Präsident will die Grenze zum südlichen Nachbarn abriegeln. Paul Theroux, bekannt für seine unermüdliche »Neugier auf die Menschen und ihr Leben in all seinen Facetten« (New York Times), nimmt das zum Anlass für einen ausgiebigen Roadtrip in ein zerrissenes Land. Täglich lesen wir die Schlagzeilen über Migrantenströme und Kartellmorde - und auch Theroux wird immer wieder gewarnt, dass er sich auf gesetzloses Territorium begibt, wo ein Menschenleben keinen Wert mehr hat. Wohl wissend, dass diese Schreckensbilder nur ein Teil der Wahrheit sein können, versucht er zu verstehen, wie sich in einem derart von Gewalt geprägten Land Herzlichkeit und Solidarität halten, Menschen sich widersetzen und an ein besseres Morgen glauben können. Dabei entdeckt er ein faszinierendes, vielgestaltiges Mexiko und hält so den Beschwörungen des US-Präsidenten ein tapferes Zeugnis der Aufklärung entgegen.

Paul Theroux, geboren 1941 in Medford, Massachusetts/USA, ist mit mehr als dreißig veröffentlichten Büchern einer der weltweit populärsten US-Gegenwartsautoren. Als Reiseschriftsteller erlangte er Weltruhm. Theroux ist seit 2013 Mitglied der American Academy of Science and Arts. Er lebt mit seiner Familie auf Hawaii und auf Cape Cod. Bei Hoffmann und Campe erschien zuletzt sein Sachbuch Auf dem Schlangenpfad. Als Grenzgänger in Mexiko (2019).

»Ohne Terror kein Geschäft«


Jorges mahnende Worte gehörten zu den üblichen Sprüchen wie »Pass auf dich auf«, die jeder Reisende bei der Abfahrt zu hören bekommt: leere Worte, in denen der Neid mitschwingt, Vorsichtsmaßregeln, die dem muffigen Stubenhocker später das Recht geben, mit einem »Siehst du, ich hab’s dir doch gesagt!« aufzutrumpfen.

»Me vale madre.« Jorge quittierte den groben mexikanischen Ausdruck, mit dem ich seine Mahnungen in den Wind schlug, mit einem lächelnden Seufzen und Kopfschütteln. Er hielt mich offenbar für sehr töricht.

Eigentlich hatte er recht damit, weil ich tatsächlich wenig Ahnung von dem ganzen Chaos hatte. Es sind eine Menge Menschen von den Kartellen umgebracht worden, das weiß man, aber die brutalen Fakten waren mir nicht im Detail bekannt. Vielleicht hatte ich sie auch bewusst ausgeklammert, um mich nicht beirren zu lassen. Was ich hier aufschreibe, entstand im Nachhinein. Die Statistik zum Beispiel besagt schlicht, dass seit September2006, als die mexikanische Regierung dem organisierten Verbrechen den Krieg erklärt hatte, zweihunderttausend Menschen umgebracht wurden oder verschwunden sind. Was ich bei meinem Aufbruch im Frühjahr2017 nicht wusste, ist, dass es allein in den ersten zehn Monaten jenes Jahres17063 Mordfälle im Land gegeben hatte, wobei Ciudad Juárez im Durchschnitt einen Mord am Tag verzeichnete – bei meiner Abfahrt waren es also schon mehr als300, weil die Drogenkartelle von Sinaloa und Juárez sich in der Stadt erbitterte Revierkämpfe lieferten. Zum Jahresende2017 verzeichnete Mexiko29168 Mordfälle, überwiegend standen sie im Zusammenhang mit den Kartellen.

In Reynosa, der mexikanischen Stadt gleich gegenüber von McAllen, Texas, wo ich in all meiner Unkenntnis stand, war Gewalt inzwischen Dauerzustand: Die Straßen waren unsicher, weil es immer wieder blutige Auseinandersetzungen gab – es wurde gemordet und gekidnappt – und weil immer wiedernarcobloqueos errichtet wurden, Straßensperren aus gekaperten, manchmal in Brand gesteckten Autos als Barrikaden zum Schutz dernarcos gegen die Belagerung durch Polizei oder Armee.»Reynosa amanece con narcobloqueos, persecuciones y balaceras« hatte die Online-Ausgabe desProceso getitelt, als ich im Mai2018 wieder einmal über die Grenze fuhr. Ich bekam aber nur noch mit schwerbewaffneter Polizei besetzte Kontrollposten und schwarzmaskierte Soldaten in dunklen, dick gepanzerten Lastwagen zu sehen.

Reynosa war zu einer der Städte mit der höchsten Kriminalitätsrate in Mexiko geworden, weil ein erfolgreicher Schlag der mexikanischen Armee, die zwei der Bosse des Golfkartells aufgespürt und getötet hatte, ein Machtvakuum ergeben hatte. Julian Loiza Salinas (»Comandante Toro«) wurde im April2017 getötet, und der Mord an Humberto Loiza Méndez (»Betito«), der im Jahr darauf zusammen mit drei Kumpanen von Regierungstruppen umgebracht worden war, erzeugte noch mehr Chaos und Machtkämpfe.

In Reynosa kamen Los Zetas, die zuerst zur Verstärkung des bewaffneten Flügels des Golfkartells eingesetzt wurden, auf die Idee, ihr eigenes Kartell zu bilden; die Zetas galten als gnadenlos. Die meisten von ihnen waren Deserteure aus einer Spezialeinheit der m