SWETLANA
Wiesbaden, im Mai 1959
Es ist ein heißer Tag gewesen, einer jener frühen Sommertage im Mai, die die Häuser und Anlagen der Stadt zum Leuchten bringen. Jetzt, gegen neun Uhr am Abend, flanieren immer noch Einheimische und Kurgäste auf der Wilhelmstraße, besehen die Auslagen der teuren Geschäfte, schlendern unter den frisch austreibenden Platanen zum »Warmen Damm« hinüber oder sitzen in den Straßencafés. Vor allem im »Café Blum«, das dem Kurhaus gegenüberliegt und seit einigen Jahren mächtig aufgerüstet hat. Nicht nur, dass seine von Markisen beschatteten Tische einen ausgedehnten Teil der Straßenfront einnehmen – man kann im angeschlossenen Restaurant auch zu Mittag essen. Und in den oberen Etagen befindet sich inzwischen ein Hotel.
Blum hat dem »Café Engel«, das jahrzehntelang das »erste Haus am Platz« gewesen ist, den Rang abgelaufen. Auch heute Abend sind im Restaurant viele Außentische belegt, man isst zu Abend, trinkt einen Wein oder probiert die frische Maibowle. Kellner in schwarzen Anzügen, ein weißes Tuch über dem Arm, eilen zwischen den Tischen umher – neu ankommende Gäste müssen drinnen Platz nehmen, da heute mehrere Außentische reserviert sind. Drüben im Kurhaus gibt die berühmte Primadonna Maria Callas ein Konzert – nach dessen Ende wird der Ansturm der Theaterbesucher auf die Cafés und Restaurants groß sein.
Im Café Engel geht es ruhiger zu. Draußen sitzt nur ein junges Paar beim Wein; die beiden sind in ein angeregtes Gespräch vertieft und nippen nur ab und zu an ihren Gläsern. Swetlana, die heute Abend aushilft, hat schon zweimal nachgefragt, ob sie noch Wünsche haben, doch die beiden sind offenbar wunschlos glücklich.
Drinnen ist man unter sich. Heinz Koch und seine Frau Else sitzen am Ecktisch beim »Engelströpfchen«, einem herben Weißen, der vom Weingut des Schwiegersohnes stammt. Hubsi Lindner, der Pianist, hat sich zu ihnen gesellt; der einsame Junggeselle spielt immer noch dreimal die Woche nachmittags im Café und ist inzwischen eine Art Familienmitglied geworden. Das Gleiche gilt für Addi Dobscher, der vor dem Krieg als Bassbariton am Theater Triumphe gefeiert hat. Nach wie vor bewohnt er sein kleines Apartment unterm Dach und macht sich, so gut es geht, im Haus nützlich. Seine fünfundsiebzig Jahre sieht man dem kräftigen, weißhaarigen Mann kaum an – nur wer ihn von früher kennt, dem fällt auf, dass seine Bewegungen langsamer geworden sind und dass er ein wenig vornübergebeugt geht. Er wohnt allein – Julia Wemhöner, seine einstige große Liebe, hat inzwischen eine andere Wohnung bezogen.
»Soll ich die beiden da draußen noch mal fragen, ob sie etwas brauchen?«, erkundigt sich Swetlana unsicher bei Else.
Die schüttelt den Kopf.
»Nee, lass mal … Sonst denken sie womöglich, wir wollten sie verscheuchen. Wenn nachher noch Gäste kommen, kannst du ja im Vorbeigehen mal nachfragen …«
Swetlana nickt und will sich in die Küche zurückziehen, aber Heinz Koch ruft sie zurück.
»Bring uns noch eine Flasche Engelströpfchen, Swetlana. Und setz dich zu uns …«
Swetlana zögert und schaut unsicher zu Else hinüber. Das Verhältnis zu ihrer Schwiegermutter hat sich zwar mit den Jahren eingespielt, vor allem die Geburt der kleinen Sina, die inzwischen acht Jahre alt ist, hat Elses Wohlwollen gefördert – eine echte Zuneigung hat sich jedoch nicht eingestellt. Else kann nach wie vor nicht vers