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Festung Vanheim
Ein halbes Jahr später
Vanheim befand sich in der Hand des Feindes.
Nicht etwa desjenigen Feindes, der auf der anderen Seite des Bruchs lauerte und dessentwegen diese Grenzfestung einst besetzt worden war; sondern wegen einer neuen, anderen Bedrohung, die den Tiefen der Welt entstiegen war.
Veysi wusste darum.
Als General der ostragischen Armee war er einst Befehlshaber der mächtigen Garnison von Makashar gewesen und hatte als solcher auch den Oberbefehl über die Grenzfeste Vanheim innegehabt. Mit ihrem Verlust hatte alles angefangen, doch wie so viele andere hatte auch Veysi die Zeichen der Zeit falsch gedeutet. Das war ihm zum Verhängnis geworden.
Dass er noch vor nicht allzu langer Zeit ein mächtiger Mann mit einer vielversprechenden Karriere gewesen war, kam ihm im Nachhinein wie bitterer Hohn vor. Stets hatte er seine Pflichten treu und vorbildlich ausgeführt und loyal zum Königshaus gestanden, in der Hoffnung, nach dem siegreichen Ende des Krieges gegen Westrien nach Altashar an den Königshof berufen und mit einem Posten als Minister oder königlicher Berater belohnt zu werden.
Doch zwei Dinge waren ihm inzwischen nur zu klar geworden, nämlich dass dieser Krieg niemals enden würde und ein Sieg in unerreichbare Ferne gerückt war. Denn jener neue Feind war ebenso erbarmungslos wie furchterregend, und jeder Widerstand gegen ihn war zwecklos.
Von einer hohen Tanne aus, auf die er, der einstmals so mächtige General, sich in seiner Not geflüchtet hatte, beobachtete er die Festung, die über einem gewaltigen Felsenkessel thronte. Unterhalb der trutzigen Mauern und Zinnen ergoss sich tosend der Vanfall in die Tiefe und verschleierte den dunklen Abgrund mit Nebel und Dunst. Doch selbst über das Rauschen der Wassermassen hinweg waren die grässlichen Schreie zu hören, die über der Festung Vanheim lagen. Und endlos war die Kolonne der Krieger, die sich von Südosten kommend dem Felsenrund näherten.
An den Anblick der hinkenden, torkelnden und stürzenden Leiber, die teils mit teeriger Masse überzogen waren, deren Röcke und Rüstung aber noch die Zugehörigkeit zu seiner alten Armee erkennen ließen, würde Veysi sich nie gewöhnen. Er hatte eine Weile gebraucht, um zu begreifen, dass jene schwarze Substanz der eigentliche Feind war, denn sie war nicht nur in der Lage, beseelte Kreaturen zu willenlosen Dienern zu machen, sondern auch dazu, die Gefallenen bereits geschlagener Schlachten mit widernatürlichem Leben zu erfüllen und sie stets von Neuem in den Kampf ziehen zu lassen.
In Brückstadt, das vom ostragischen Heer belagert worden war, war Veysi diesem unheimlichen Feind erstmals begegnet[2], und innerhalb von Tagen hatte dieser die beinahe zwölftausend Mann zählende ostragische Streitmacht besiegt. Nicht im Kampf wohlgemerkt, sondern indem er leise und feige aus dem Abgrund kroch und sich der ostragischen Streiter bemächtigte – und jetzt gehörten sie alle zu seinem Heer.
Lanzenträger aus Nabara, Bogenschützen aus Ugarya und selbst die gefürchteten Sturmreiter Turaniens, einst der Stolz der königlichen Armee, waren der schwarzen Essenz verfallen und zu willenlosen Werkzeugen geworden, zu lebenden Toten, die jeden Befehl ihres Anführers ohne Zögern ausführten – selbst, wenn es ihr eigenes Ende bedeutete.
Ihr Anführer …
Veysi kam es vor, als würde seine linke Hand schmerzen – dabei war sie gar nicht mehr an Ort und Stelle. Kraft jener zerstörerischen, übernatürlichen Gabe, die er besaß, hatte Xusra, Hohepriester des Feuers und selbst ernannter Oberbefehls