: Alex Capus
: Eigermönchundjungfrau
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446259904
: 1
: CHF 10.00
:
: Erzählende Literatur
: German
: 176
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Inhaltsbeschreibung folgt

Alex Capus, geboren 1961 in der Normandie, lebt heute in Olten. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten und Reportagen. Bei Hanser erschienen Léon und Louise (Roman, 2011), Fast ein bisschen Frühling (Roman, 2012), Skidoo (Meine Reise durch die Geisterstädte des Wilden Westens, 2012), Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer (Roman, 2013), Mein Nachbar Urs (Geschichten aus der Kleinstadt, 2014), Seiltänzer (Hanser Box, 2015), Reisen im Licht der Sterne (Roman, 2015), Das Leben ist gut (Roman, 2016) und Königskinder (Roman, 2018).  

Etwas sehr, sehr Schönes


Die Geschichte beginnt morgens um sieben Uhr an einem jener goldenen Herbsttage, wie sie das Basler Hinterland so leuchtend klar hat. Auf einem kleinen Hügel stehen einsam drei flammendgelbe Birken, dahinter liegt ein stattliches weißes Wohnhaus. Auf der Terrasse flattert eine Schweizerfahne im warmen Südwestwind. Die Tür geht auf, eine junge Frau kommt heraus. Sie ist vielleicht zwanzig, allerhöchstens fünfundzwanzig Jahre alt, trägt ein rot-weißes Reisekostüm, und ihr blondes Haar leuchtet in der Morgensonne. In weißen Sandalen läuft sie auf ihr Auto zu, während hinter ihr ein weißhaariger Mann aus dem Haus tritt. Der Mann ist bestimmt über Sechzig. Seinem ausrasierten Nacken und den harten Zügen um die Mundwinkel sieht man zwei Weltkriege an, seinen Schultern und dem flachen Bauch den lebenslang trainierten Leichtathleten. Er trägt zwei große Koffer, mühelos hält er sie seitlich auswärts, so daß sie ihm nicht gegen die Beine schlagen. Er legt das Gepäck auf den Beifahrersitz, denn das Auto ist rund und winzig wie ein Frosch, ein schwarzer Renault Heck, und anderswo ist kein Platz. Dann umarmt er die junge Frau, schaut ihr eindringlich in die Augen und sagt etwas. Sie nickt, steigt ein und fährt los, kurbelt das Fenster herunter, streckt einen nackten Arm heraus und winkt. Dabei knickt sie den Ellbogen einwärts, wie es nur Frauen können. Der weißhaarige Mann winkt zurück, bis der Renault hinter den Birken verschwindet, und geht dann schnell ins Haus. Es ist der 21. Oktober 1960.

Bis zur Grenze ist es nicht weit. Ein Zöllner mit steifem Hut und Stehkragen hebt den rot-weißen Schlagbaum, ein zweiter grüßt militärisch, und gemeinsam sehen sie dem schwarzen Renault hinterher. Am Straßenrand steht ein großer blauer Wegweiser, auf dem in weißer Schrift »Paris« steht.

Noch immer ist es früh am Morgen. Die Platanen links und rechts der Straße werfen lange Schatten westwärts auf die abgemähten Weizenfelder, der Mais ist feucht vom Tau, und weit hinten treibt ein Bauernbub Kühe auf die Weide. Im Innern des Wägelchens dröhnt und scheppert es, das Steuerrad vibriert, und das Bild im Rückspiegel ist verzittert. Die junge Frau fährt so schnell der Motor eben kann. Sie ist glücklich. In den Lärm hinein singt sie Bruchstücke eines Liedes von Edith Piaf. Plötzlich verstummt sie und zuckt zusammen, als ob sie etwas vergessen hätte. Sie angelt ihre Handtasche neben den Koffern hervor und nimmt eine Packung Zigaretten heraus. Camel, ohne Filter. Sie versucht vergeblich, die Packung einhändig aufzureißen, aber die andere Hand zu Hilfe nehmen kann sie auch nicht, weil die Straße ziemlich kurvig ist. Schließlich reißt sie die Packung mit den Zähnen auf, mit starken weißen Zähnen, zieht eine Zigarette heraus und zündet sie an. Ein aufmerksamer Beobachter würde auf den ersten Blick sehen, daß die junge Frau keine geübte Raucherin ist; sie hält die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger, schürzt die Lippen bei jedem Zug zu einem spitzen Mündchen, und den Rauch zieht sie kaum tiefer hinein als bis zu den Backenzähnen. Der Qualm wird immer dichter im engen Auto, bis sie das Fenster herunterkurbelt und die halb gerauchte Zigarette hinauswirft.

Die Sonne steigt höher, die Schatten in den Alleen werden kürzer. Am Mittag fährt die junge Frau auf den Parkplatz eines Restaurants und stellt ihr Wägelchen zwischen zwei gewaltigen Lastwagen ab. Vor der Eingangstür hängen bunte Plastikstreifen und versperren die Sicht ins Lokal. Sie schiebt sie zur Seite und tritt ein. Sie ist die einzige Frau im Lokal; an den Tischen sitzen Männer mit stark behaarten Unterarmen. Sie reden miteinander, und höflich bemühen sich alle, die junge Frau nicht ungebührlich anzustarren. Sie setzt sich an einen freien Tisch. Der Wirt kommt und nimmt die Bestellung auf.

Dann fragt er: »Na, Mademoiselle, wohin fahren Sie denn, so ganz alleine?«

»Nach Paris.«

»Ah, Paris! Wie lange bleiben Sie da?«

»Nur eine Nacht. Dann geht's weiter nach England. Ich besuche einen Englischkurs in Oxford.«

»Studentin?«

»Lehrerin. Ich bilde mich weiter.«

»Das ist gut, Mademoiselle, das ist gut.« Der Wirt kehrt zurück in die Küche, um Mademoiselle einen gemischten Salat zu bereiten. Die junge Frau entdeckt die Musikbox in der Ecke. Sie geht hin, studiert das Verzeichnis und drückt drei Tasten. Unter der Glashaube erhebt sich ein halbkreisförmiger Arm, greift rückwärts in die nebeneinanderstehenden Schallplatten und legt eine auf den Plattenteller. Der Tonarm macht einen Schwenker, es knistert und kracht, und dann ertönt die Musik. Es ist ein Lied von Edith Piaf, dasselbe, das die junge Frau im Auto gesungen hat. Erst jetzt merkt sie, daß es still geworden ist im Restaurant. Sie dreht sich um. Die Männer sitzen schweigend da und starren sie an. Schnell kehrt die junge Frau an ihren Platz zurück. Sie zieht ein Buch aus der Handtasche, legt es vor sich auf den Tisch und schaut nicht mehr auf, bis der Salat kommt.

Bevor die Männer ihren Kaffee ausgetrunken haben, ist der kleine Renault schon wieder auf der Straße. Die Bäume werfen jetzt nur noch ganz kurze Schatten, und über dem Teer flimmert es wie im Sommer. Dann werden die Schatten wieder länger und zeigen nordostwärts. Aber bevor der erste Schatten den Horizont berührt, läßt die junge Frau den letzten Baum hinter sich und fährt in Paris ein. Auf dem Boulevard Saint-Michel fragt sie einen Polizisten nach einem bestimmten Hotel. Sie fährt hin und hat Glück: Gleich vor dem gläsernen Entrée ist ein Parkplatz frei. Sie geht hinein, spricht mit der Dame an der Rezeption und erhält sofort einen Zimmerschlüssel.

Der Hoteldiener holt die Koffer aus dem Wagen und geht voran die Treppe hoch. In ihrem Zimmer staunt die junge Frau über die Höhe des Fensters, das von der Decke bis knapp über den Boden reicht. Sie öffnet es, lehnt sich hinaus über das verschnörkelte gußeiserne Geländer, sieht hinunter ins emsige Treiben auf der Straße und hoch hinaus über die Dächer der großen Stadt und zündet ihre zweite Zigarette an.

Zerfließend geht die Sonne unter, die Nacht kommt. Die junge Frau hat sich gewaschen und einen leichten Sommerrock angezogen. Jetzt streift sie ihr weißes Strickjäckchen über, wirft einen prüfenden Blick in den Spiegel, hebt Handtasche und Zimmerschlüssel vom Bett auf und geht hinaus. Auf dem Boulevard Saint-Michel sind gutaussehende junge Leute zu Tausenden unterwegs. Zu Hause im Basler Hinterland gehörte die junge Frau zu den hübschesten, und mehrmals hatten liebeskranke Jünglinge unglückliche Nächte im Schatten von drei einsamen Birken verbracht. Aber hier, in Paris … die junge Frau ist beeindruckt.

Sie geht vorbei an den berühmten Literatencafés, in denen längst keine Literaten mehr sitzen, sondern nur noch blasierte Burschen in schwarzen Rollkragenpullovern, die gelangweilt dem Geschwätz ihrer hochtoupierten Freundinnen zuhören. Sie schnuppert den Dieselgestank der Busse, selig betrachtet sie die Auslagen der Buchhandlungen, heimlich schaut sie den vorbeiziehenden Menschen nach. An einer Ecke kauft sie ein paar Ansichtskarten und setzt sich ins nächste Café. Sie hat Vater versprochen, sich gleich am ersten Tag zu melden — nicht anzurufen, das wäre Geldverschwendung, aber doch eine Karte zu schreiben. Sie bestellt die erste Cola ihres Lebens, kramt den Federhalter aus der Handtasche und nimmt eine Ansichtskarte vom Stapel. Geschwind schreibt sie die Adresse und »Lieber Papa, liebe Mama«; dann stockt sie und beißt auf dem Füller herum.

Jemand spricht sie an. »Verzeihung, Mademoiselle. Wie ich sehe, haben Sie da einen ordentlichen Stapel Ansichtskarten. Wenn Sie eine entbehren könnten, würde ich Ihnen gerne ein paar Zeilen schreiben.«

Sie sieht den Mann an. Jung ist er, wahrscheinlich jünger als sie, und er kann unter seinen Augenbrauen hervorschauen wie James Dean. Das findet die junge Frau etwas lächerlich, aber immerhin trägt er keinen schwarzen Rollkragenpullover, sondern ein weißes Hemd und eine unglaublich schmale Krawatte. Groß und schlank ist er, und er spricht betont deutlich und langsam, damit sie ihn verstehen kann. Der junge Mann gefällt ihr. Sie reicht ihm eine Karte und den Füller. Er schreibt drei Zeilen, gibt ihr alles zurück, steht auf und verabschiedet sich: »Morgen um diese Zeit werde ich hier auf Sie warten. Auf Wiedersehen, Mademoiselle.« Und bevor die junge Frau antworten kann, daß sie in vierundzwanzig Stunden längst unterwegs nach England sein wird, vielleicht schon auf der Fähre oder jenseits des Ärmelkanals, ist der junge Mann im Strom der Menschen verschwunden.

Immer an dieser Stelle der Geschichte huscht...