: Stefanie de Velasco
: Kein Teil der Welt Roman
: Verlag Kiepenheuer& Witsch GmbH
: 9783462317312
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 432
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Vom Aufwachsen in der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Mit unwiderstehlicher Kraft erzählt Stefanie de Velasco in ihrem zweiten Roman von einer unbekannten Welt und dem Emanzipationsprozess einer jungen Frau, der sämtliche Fundamente zum Einstürzen bringt. Ein ostdeutsches Dorf kurz nach der Wende. Die junge Esther wurde über Nacht aus ihrem bisherigen Leben gerissen, um hier, in der alten Heimat ihres Vaters, mit der Gemeinschaft einen neuen Königreichssaal zu bauen. Während die Eltern als Sonderpioniere der Wachtturmgesellschaft von Haus zu Haus ziehen, um im vom Mauerfall geprägten Osten zu missionieren, vermisst Esther ihre Freundin Sulamith schmerzlich. Mit Sulamith hat sie seit der Kindheit in der Siedlung am Rhein alles geteilt: die Fresspakete bei den Sommerkongressen, die Predigtdienstschule, erste große Gefühle und Geheimnisse. Doch Sulamith zweifelt zunehmend an dem Glaubenssystem, in dem die beiden Freundinnen aufgewachsen sind, was in den Tagen vor Esthers Umzug zu verhängnisvollen Entwicklungen führt. Während Esther noch herauszufinden versucht, was mit Sulamith geschehen ist, stößt sie auf einen Teil ihrer Familiengeschichte, der bislang stets vor ihr geheim gehalten wurde.

Stefanie de Velasco, geboren 1978 im Rheinland, studierte Europäische Ethnologie und Politikwissenschaft. Sie schreibt regelmäßig für das Berliner Stadtmagazin Zitty, für die FAS und ZEIT Online. 2013 erschien ihr Debütroman »Tigermilch«, der in zahlreiche Sprachen übersetzt und für das Kino verfilmt wurde.

Genesis


1


»Esther!«, ruft Mutter.

Ganz hinten am Horizont steht dicker schwarzer Qualm. Es brennt, es brennt! Es brennt nicht. Es sind nur die Schornsteine. Rauchende, alte Zuckerhüte. Sie kommen demnächst weg.

»Man macht ja doch keine Feuerzangenbowle«, hat Vater gesagt, »und wenn, dann nicht aus denen da.«

Das Schild steht schon am Eingang, ich kann es von meinem Fenster aus sehen, strahlend weiß, als hätten Außerirdische es dort hingestellt:Hier entsteht in Kürze ein Globus-Gartencenter. Hinter dem Schild eine verrußte Backsteinfassade, ein verrostetes Tor. Niemand geht dort ein oder aus, trotzdem zieht sich um das gesamte Gelände ein Zaun.

Ein schmaler Fluss quetscht sich an der Fabrik vorbei, am Ufer sammelt sich cremefarbener Schlackeschaum, dick und steif wie Schlagsahne, allein vom Anblick wird einem schlecht. Am Fluss stehen Häuser, die Fassaden nicht grau, nicht braun. Ich muss noch einen Namen für diese Farbe finden. Grauen. Die Dächer sind fast alle zerstört, die Fensterscheiben zertrümmert, aus Wut, oder die Zeit hat sie totgeschlagen. Auch auf der Straße muss man aufpassen. Immer wieder fallen Fassadenbrocken herunter. Manche sind hart, manche weich und porös. Die Leute hier fegen die Brocken an den Sonntagen in die Hinterhöfe, dort entstehen immer größere Türme, jeder Hof ein kleines Babylon, das sich einfach nicht ergeben will.

Ich habe lange überlegt, woran mich diese Steine erinnern. Ich bin in die Hocke gegangen, habe sie in die Hand genommen, sie gewogen und sie zwischen den Fingern zerrieben, dann ist es mir wieder eingefallen. Wenn Hunde zu viel Knochen fressen, hinterlassen sie so etwas. Früher haben Sulamith und ich solche Brocken manchmal auf den Feldwegen neben unseren Himbeeren gefunden und mit Kreide verwechselt. Wir haben den Platz vor der Garageneinfahrt damit bemalt. Ich habe versucht, meinen Namen damit zu schreiben, das S in der Mitte falsch herum, weil ich es noch nicht besser wusste, weil ich noch gar nicht richtig schreiben konnte. Sulamith malte unser Haus, vor der Tür mich, in den Fenstern Mutter und Vater, ihre Köpfe Dreiecke mit spitzen Kinnen und ihre Nasen Striche und Kreise, riesige Nasenlöcher, richtig entstellt sahen sie aus mit diesen Nasen, bis Sulamith die Kreide plötzlich fallen ließ.

»Das ist Hundescheiße«, flüsterte sie.

Scheiße, ich kannte dieses Wort, aber ich hatte es noch nie jemanden laut sagen hören. Es zischte in meinen Ohren, als würde jemandSnickers braten.

Anders als Sulamith war ich nie eine gute Malerin. Aber wenn ich das da draußen alles malen müsste, den grauen Himmel, vom Rauch durchzogen, die Fabrik, den Fluss, ich würde alles mit diesen Steinen malen, ich würde mir die Steine aus den Hinterhöfen nehmen und würde malen, so lange, bis es keine Steine mehr gäbe, keine Häuser mehr, bis nichts von hier mehr übrig wäre.

»Esther!«, ruft Mutter wieder.

Draußen flattern Sulamiths Kleider. Ich habe sie vor mein Fenster gehängt, damit ich das alles nicht ständig sehen muss, die alten Schornsteine, die kaputten Häuser, den verdreckten Fluss: das rote Meer. So hat Mutter es gestern genannt, bei unserer ersten Zusammenkunft. Jeder hat von zu Hause Stühle mitgebracht, weil im neuen Königreichssaal noch keine stehen. Das Dach ist schon fertig, aber sonst sieht fast alles noch so aus, wie es in einem halb fertigen Gebäude eben aussieht. Die Wände sind unverputzt, es liegt kein Teppichboden. Wir werden hier in Peterswalde die Ersten sein, die eine Zentralheizung haben, aber noch ist die Anlage nicht montiert. Es war bitterkalt. Schwester Wolf humpelte auf mich zu, i