1. KapitelDer kleine Oheim will Selbstmord begehen
Gleich, als ich den äußeren Hof betrat, bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte. Die Chaiselongue stand an ihrem üblichen Platz, aber weit und breit war kein Großpapa zu sehen. Auf dem Boden neben der Chaiselongue lagen das Buch mit dem braunen Umschlag, sein Tabaksbeutel und die schon kalt gewordene Pfeife.
Als ich dann das Tor zum Innenhof aufstieß, wäre mir vor Verblüffung fast ein kleiner Schrei herausgerutscht. Großpapa befand sich tatsächlich auf den Beinen, was so gut wie nie vorkam, so selten jedenfalls, dass ich ihn beinahe nicht wiedererkannt hätte. Er unterhielt sich mit einem mir unbekannten Mann, der einen schwarzen Borsalino auf dem Kopf trug. Sie waren so sehr in ihr Gespräch vertieft, dass sie mich gar nicht wahrnahmen. Ich kam mir wie ein Störenfried vor. Auf keinen Fall dürfen Sie den Revolver verstecken, sagte der Mann mit dem Borsalino. Wer mit dem Gedanken spielt, sich umzubringen, tut es eher, wenn er keinen Revolver zur Hand hat.
Ach, so ist das, dachte ich, als ich die Treppe hinaufging. Im Flur des Obergeschosses wäre ich fast mit der kleinen Muhme zusammengestoßen. Sie umarmte mich stürmisch, was ich mir überhaupt nicht erklären konnte. Man sah ihr an, dass sie mit einem schlechten Gewissen kämpfte und geweint hatte. Mir war schon früher aufgefallen, dass hübsche Frauen noch schöner aussehen, wenn sie zerknirscht sind.
»Bist du das, wo sich umbringen will?«, fragte ich.
Sie starrte mich verdutzt an.
»Woher hast du denn das?«
»Großpapa hat mit einem Mann darüber geredet.«
»Vater hat gesagt, dass ich mich umbringen will?«
Ich schluckte.
»Also, dein Name wurde nicht genannt, aber dass jemand im Haus …na ja, Selbstmord begehen will, davon haben sie gesprochen … Und dass man den Revolver in solchen Fällen besser nicht verstecken soll …«
»Was redest du nur für dummes Zeug?«, fuhr mich die Muhme an. Sie drehte sich um und wollte weggehen, überlegte es sich dann aber anders. »Jetzt hör mir mal gut zu, Dummerjan! Da hast du was in den verkehrten Hals bekommen. Untersteh dich bloß, es herumzuplappern, hast du kapiert? Das geht nur die Leute im Haus etwas an, auf keinen Fall darf etwas hinausdringen, kapiert?«
Ihr wütender Wortschwall wollte gar kein Ende nehmen, und jeder Satz endete mit einem »kapiert«. Ich befürchtete schon das Schlimmste, da änderte sich plötzlich ihr Verhalten. Sie beugte sich zu mir herab und erklärte in nunmehr liebevollem Ton, ja, sie trage wohl die Schuld, aber nicht sie denke daran, sich umzubringen, sondern jemand anders, nämlich ihr Bruder, also der kleine Oheim. Am besten sei jedoch, ich würde alles gleich wieder vergessen.
In meinem Kopf ging alles durcheinander. Jemand anders wollte sich umbringen, aber sie war schuld? Aha! Ich versprach, alles gleich wieder zu vergessen, wenn sie mir bloß erzählte, was sie ihm Schlimmes angetan hatte.
»Ich habe ihm nichts Schlimmes angetan«, erwiderte sie, dann dachte sie kurz nach. »Eigentlich überhaupt nichts«, meinte sie schließlich.
Das wiederholte sie mehrmals. Am Ende hatte ich mit Müh und Not herausgefunden, dass sie ihm wirklich nichts angetan, sondern bloß eines Tages etwas gefunden hatte, das ihm gehörte, unabsichtlich natürlich … Etwas, das niemand hätte sehen dürfen …
»Das reicht jetzt aber«, sagte sie dann. »Du weißt schon mehr, als gut für dich ist. Du verrätst mich doch nicht, oder?«
Sie umarmte mich kurz. Wie immer roch sie sehr gut, und als sie wegging, schüttelte sie ihr langes blondes Haar nervös, was sie noch schuldbewusster