: Walburga Hülk
: Der Rausch der Jahre Als Paris die Moderne erfand
: Hoffmann und Campe Verlag
: 9783455006384
: 1
: CHF 11.80
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: Neuzeit bis 1918
: German
: 416
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Paris, 2. Dezember 1851: Louis Napoleon, Neffe des großen Napoleon Bonaparte, putscht sich an die Macht. Mit ihm wird Frankreich zum Zentrum der Welt. Es ist die Zeit der Gegensätze: Dekadenz und Reichtum auf der einen Seite, Unterdrückung und unmenschliche Arbeitsverhältnisse auf der anderen. Inmitten dieser turbulenten Zeiten kämpfen die Brüder Goncourt mit der Zensur, Victor Hugo muss das Land verlassen, Flaubert treibt sich im Bordell herum und Baudelaire raucht Haschisch. George Sand macht sich Sorgen um das Klima. Neben wegweisender Kunst und Literatur der Moderne entstehen im Zweiten Kaiserreich auch ein gigantisches Eisenbahnnetz, Frachthäfen, Fabriken und Bergwerke, Boulevardpresse und Spekulationsblasen. Haussmann walzt das verwinkelte Paris nieder und durchzieht die Stadt mit großen Boulevards. Der Krimkrieg ist der erste nach modernen Maßstäben geführte Krieg, der Suezkanal verändert den Welthandel nachhaltig. Kurz: Alles ändert sich rasend schnell. Bis Napoleon III. sich 1870 von der »Emser Depesche« provozieren lässt ...

Walburga Hülk-Althoff, Jahrgang 1953, ist Professorin für romanische Literaturen an der Universität Siegen. Zuvor lehrte sie in Freiburg und Gießen und war Gastprofessorin an der University of California in Berkeley sowie in Valenciennes und Paris. Sie gilt als Expertin für das 19. Jahrhundert in Frankreich und hat sich in zahlreichen Studien mit der Literatur und Kunst in der Moderne befasst. Sie lebt in Münster.

Der Staatsstreich als Jüngstes Gericht


Mit dem Datum des Staatsstreichs setzt ein großes schriftstellerisches Unternehmen ein, dasJournal von Edmond undJules deGoncourt, das erst1896 mit dem Tod Edmonds endet. Anekdoten und Klatsch, die Dinge des Lebens und die großen und kleinen Begebenheiten und Träume, die hier wie in jedem Tagebuch aufgezeichnet sind, bergen unter der Oberfläche der Beiläufigkeit zugleich einige tiefe Wahrheiten über die französischen Verhältnisse. Am2. Dezember1851 erfolgte der erste Eintrag insJournal. Mémoires de la vie littéraire.

Der Staatsstreich war eine Erschütterung für die beidenBrüder, obwohl sie keineswegs die Leidenschaft VictorHugos oder GeorgeSands für die nun abgeschaffte Republik oder jedwede Herrschaft des Volkes teilten. Sie waren vielmehr höchst kühle und ironische Beobachter der rasanten Veränderungen und zähen Gewohnheiten, die sie in Paris mit eigenen Augen und in Echtzeit studieren konnten. Tag für Tag und Nacht um Nacht führten sie fortan Buch und notierten das, was sie sahen und erlebten, und das, was ihnen zugetragen wurde. So positionierten sie sich als Zeitzeugen und als Agentur für Erzählungen und Gerüchte, deren aktuelle und generelle Macht sie richtig einzuschätzen wussten. Manche ihrer Einträge haben die Länge eines Tweets, andere ähneln Essays oder kleinen Reportagen. Am2. Dezember1851 war Edmond deGoncourt neunundzwanzig und Jules, der Federführende, gerade einmal zwanzig Jahre alt. Er, der Jüngere, würde im Juni1870 sterben und das Ende des Zweiten Kaiserreichs nicht mehr erleben.

© Die Brüder Edmond und Jules Huot de Goncourt, undatierte Fotografie von Felix Nadar. Mit freundlicher Genehmigung von Wikimedia Commons.

Edmond hatte nachweislich schon früher den Plan für ein Tagebuch gefasst und sich dazu besonders im Revolutionsjahr1848 verstreute Notizen gemacht. Für den ersten Eintrag wählten dieBrüder jedoch den Tag des Staatsstreichs:[6] In einer Traumvision vom Jüngsten Gericht werden ihre Seelen von großen Engeln vor den göttlichen Richterstuhl geführt. Gottvater sieht mit seinem mächtigen weißen Bart aus wie auf Kirchenfresken. Er sitzt inmitten seiner himmlischen Heerscharen, die »wie Gendarmen schlafen« und ihre »weißbehandschuhten Hände über den Säbeln« kreuzen. Der Weltenherrscher befragt die Brüder nach ihren Taten und zuletzt nach ihrer Zeugenschaft grausamer Tierkämpfe in der Arena. Als er sie aushorcht nach Stieren und Bären, die Hunde zerfleischen, und nach großen ausgehungerten Doggen, die mit ihren Fangzähnen einen alten hilflosen Esel zerreißen, da bekennen sie, etwas viel Schlimmeres gesehen