Quantensprünge
Als mir meine Trainingsgruppe im Spital einen Besuch abstattete, fiel ich aus allen Wolken. Die Burschen eröffneten mir doch tatsächlich und allen Ernstes, sich vom Stabhochsprung zurückziehen zu wollen. „Warum wollt ihr nicht mehr springen?“, fragte ich entgeistert. „Das ist doch das Schönste, das war immer unser Traum, dafür haben wir gelebt. Ich würde doch auch sofort wieder beginnen, wenn ich könnte.“ Ein Jahr später ist aus dem verbliebenen Trio tatsächlich nur mehr einer übrig. Was zu einem Gutteil daran liegt, dass mein Vater, der die Truppe betreut hatte, gezwungen war, andere Prioritäten zu setzen. Lukas Wirth, der als 18-Jähriger starke 5,15 Meter überqueren konnte, hat aufgehört, Emanuel Hübner auf Sprint umgesattelt, einzig Riccardo Klotz hält unsere Fahnen noch hoch. Dem damals 16-Jährigen war am Tag nach meinem Unfall ein mentaler Kraftakt geglückt, als er beim European Youth Olympic Festival in Tiflis mit übersprungenen 4,60 Metern die Bronzemedaille einheimste. Nachdem er auf der Hinreise infolge eines Kreislaufkollaps zwei Schneidezähne eingebüßt hatte. Ricci wird nun von seinem Vater gecoacht und nähert sich unaufhaltsam der Fünfmeter-Schallmauer.
Dass die Burschen ins Grübeln kamen, kann ihnen niemand verübeln. In den Tagen nach meinem Unfall wurde Stabhochspringen zur gefährlichsten Freizeitbeschäftigung, der man überhaupt nachgehen kann, hochstilisiert. Zitiert wurden die Erkenntnisse des National Centre for Catastrophic Sport Injury Research, das zwischen 1983 bis 2004 nicht weniger als 18 Todesfälle im amerikanischen High-School- und Collegesport ermittelt hatte. Einige der Fälle lassen sich im Internet gut nachrecherchieren. Man stößt auf die Namen von Samoa Fili (17), Leon Roach (19), Kevin Dare (19), Ryan Moberg (18) und Robert Zhongjie Yin (20). Hinzu kamen sieben Querschnittslähmungen, unter anderem von James Vollmer (zum Zeitpunkt des Unfalls 21), Jared Lutz (18) und Brandon White (18). Vor allem 2002 rissen die Schreckensmeldungen mit drei tödlichen Stürzen innerhalb von sieben Wochen nicht ab, worauf die Behörden einzelner US-Bundesstaaten mit einer Helmpflicht für Stabhochspringer reagierten. Das Beispiel machte mangels bewiesener Sinnhaftigkeit keine Schule. Zum Vergleich: American Football verzeichnete im gleichen Beobachtungszeitraum 94 Tote und 553 Schwerverletzte. Allerdings bei einer 50 Mal höheren Zahl an Ausübenden. Der wenig schmeichelhafte Status von Football als „gefährlichste High-School- und Collegesportart“ dürfte in den USA demgemäß zu Recht bestehen. Was mich erstaunt, ist, dass aus keinem anderen Land tödliche oder schwere Stabhochsprungverletzungen überliefert sind. Entweder wird anderswo weniger akribisch, vielleicht auch gar nicht dokumentiert, oder man lässt die jungen Athleten in den USA zu früh und/o