24. Dezember 2016, Heiliger Abend
»Ihr Inderlein kommet«
Meine Erleuchtung in einer katholischen Kirche
Ich sehe einen kleinen Christbaum, vielleicht einen Meter hoch, schlicht und von meiner Mutter geschmackvoll geschmückt, mit roten Kerzen und roten Kugeln. Leider steht dieser Baum nicht bei ihr im Wohnzimmer. Er steht auf dem Friedhof. Er ist für meinen Papa.
Nikolaus Schwab 24. Juni 1944 –18. November 2014. Das steht auf der Steintafel hinter dem Christbaum, und ich kann diese eingravierte Inschrift noch so oft lesen – dass mein Vater vor etwas mehr als zwei Jahren plötzlich verstorben ist, will und kann ich bis heute nicht glauben. Herzinfarkt im Auto, bei der Heimfahrt von einem gemütlichen Hallenfußballspiel mit Freunden. Er hatte nie schwere gesundheitliche Probleme gehabt. Allerdings war mein Papa seit seinem elften Lebensjahr zuckerkrank, deswegen hatte ich stets die Angst, dass er nicht an der Zuckerkrankheit selbst, sondern an den jahrelangen körperlichen Abnützungserscheinungen sterben würde. So ist es dann wohl auch gekommen.
Aus der Kirche neben dem Grab ist eine Ziehharmonika zu hören, sicherlich ein Weihnachtslied, ich kann aber nicht heraushören, um welches es sich handelt. Es ist knapp nach 16 Uhr, die Kinderchristmette dürfte soeben begonnen haben. Mein Vater darf noch nicht hier auf diesem Friedhof liegen, nein, er müsste jetzt in der Kirche sitzen, um dort den Zeremonienmeister zu geben, wie er es so viele Jahre getan hat. Obwohl er einen gesunden Abstand zur katholischen Kirche hatte, war mein Papa stark in der kirchlichen Gemeinschaft von St. Jakob verankert. Er hielt Lesungen bei Messen, aber vor allem wurde er für seine einfühlsamen, sehr persönlichen Trauerreden bei Begräbnissen geschätzt. Er hat sie auch für Menschen gehalten, die aus der katholischen Kirche ausgetreten sind. Ebenso hat er als Theaterliebhaber für die Dramaturgie bei Anlässen wie etwa dieser Kinderchristmette gesorgt.
Und deshalb stelle ich mir die Frage: Warum musste er mit siebzig Jahren gehen? In dieser guten körperlichen und geistigen Verfassung? Ist Gott so brutal? Bringt es nichts, sich in der Kirche zu engagieren? Aber wenn ich weiterdenke, dann sehe ich das vielleicht falsch – mein Vater durfte trotz seines Diabetes I siebzig Jahre alt werden. Nicht nur einmal in seinem Leben hatte mein Papa Glück. In seiner Jugend zum Beispiel hat er die ein oder andere nicht ungefährliche medizinische Untersuchung, später so manchenHypo (Kurzform von Hypoglykämie – starke Unterzuckerung) gut überstanden. Ich habe keine Antworten auf diese Fragen, und selbst wenn ich welche hätte, der Schmerz würde nicht vergehen, Wut und Trauer würden nicht kleiner werden.
Dort, wo das Wissen aufhört, fängt der Glaube an, sagt man so schön. Ich zünde die Kerze an, die ich für meinen Papa mitgebracht habe, setze sie behutsam auf sein Grab und stelle mir an diesem Heiligen Abend selbst die Gretchen-Frage: Wie hast du es mit der Religion?
Nachdem ich keine schnelle Antwort finde, kehre ich wieder in Gedanken zurück zu meinem Papa, beginne – wie immer an seinem Grab – ein innerliches Zwiegespräch, wische mir die eine oder andere Träne aus den Augen, verabschiede mich und beschließe dann, doch noch einen Sprung in die Kirche zur Kinderchristmette zu machen. Auch letztes Jahr habe ich sie besuc