EINE STADT AUF ENTZUG?
Mir war es schon wie der Naturzustand vorgekommen. So wohlig hatte ich mich in dieser Welt der Zweisamkeit eingerichtet, dass ich mich an das andere Leben nur dunkel erinnern mochte. Aber war es nicht immer nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ich wieder allein war? Das sagte ich mir jetzt jedenfalls. Vielleicht wollte ich bloß Recht haben, vor mir behaupten können, dass ich den Ausgang dieser Story von Anfang an gekannt hatte. Falls das wirklich zutraf, hatte ich das für einen langen Zeitraum vergessen, bis die Fallhöhe ganz unbemerkt ziemlich schwindelerregend geworden war. Nach fünf Jahren, unzähligen Diskussionen, Versöhnungen, Vertrauensbrüchen, Neuanfängen, Enttäuschungen und Überraschungen hatte sie die Schnauze voll. Dass ich jetzt endlich das Haus verlassen und allem fernbleiben konnte, ohne mich rechtfertigen zu müssen, hätte mich beflügeln können. Aber es zog mich runter.
Ins Kellergeschoss eines unauffälligen Gebäudes im Büroviertel Yotsuya, in die Bar Nocturne. Unter meinen Ellenbogen ein glattpolierter Tresen aus Holz, über meinem Kopf Boxen, aus denen bluesiger Pianojazz spielte, gegenüber ein Mann in weißem Hemd, schwarzer Weste und Fliege, wahrscheinlich kurz vorm Midlife-Crisis-Alter. Mit einem kräftigen Schwung im Arm wirbelte er ein kleines Glas durch die Luft, ehe er dem Typen zwei Sitze neben mir vorsichtig einen 17-jährigen Hibiki einschenkte.
Der Gast zog das Glas vor seine Brust an die Barkante und hielt sich einige Minuten daran fest. Er war alleine hier, wie ich, aber einen Tick älter, Mitte dreißig wahrscheinlich, und angesichts seiner Reglosigkeit schien es ihm lieber zu sein, wenn sich seine Blicke mit niemandem kreuzten. Parallel schauten wir an die Flaschenwand hinterm Barkeeper. Whisky aus Schottland, Irland, Kanada, Japan, Zehnjährige, Zwölfjährige, Siebzehnjährige. Im rechten Augenwinkel sah ich, wie seine Hand das Glas hob. Ein Viertel des Getränks machte einen Abgang. 17 Jahre voller Hingabe, akribischen Brennens und strenger Lagerungsregeln flossen nun ins Verdauungssystem dieses stillen Typen.
Was sind dagegen schon fünf Jahre Beziehung? »Ich nehme auch einen«, sagte ich möglichst leise, gleich eingeholt von einem Gefühl der Schuld, das mich wie ein Schauer überkam, weil damit jeder wusste, dass ich meinen Sitznachbarn beobachtet hatte. Und dann der Preis: für zwei Zentiliter umgerechnet gut zwölf Euro. Meine Gewohnheit in Bars war eher, das billigste Bier des Hauses zu nehmen, Geschmack zweitrangig. Der Barmann sah mir das bestimmt an, nickte aber wie ein Ahnungsloser, suchte nach einem passenden Glas, wirbelte es durch die Luft, schenkte langsam ein und schob es über den Tresen zu mir.
Erst atmete ich die 17 Jahre ein, dann setzte ich das Glas an die Unterlippe, reichte nur ein Bisschen an meine Zunge, schwenkte es vorsichtig durch den Mund. Ein zaghafter Schluck. Der erste Teil von 17 Jahren war jetzt auch bei mir dahin. Feine Eleganz breitete sich aus. Erst schmiegte sich der Hibiki pflaumig und schwer in meine Mundhöhle, am Ende zitrusartig apfelig. Ob mir das gefiel, wusste ich nicht. Mir entwich ein Stöhnen, ich fühlte mi