SIND EXTREMISTEN AUCH NUR MENSCHEN WIE DU UND ICH?
Jene tausenden Stunden, die ich nunmehr mit meiner Tätigkeit als muslimischer Gefängnisseelsorger in der Justizanstalt Josefstadt zubringe, stellen Tag für Tag aufs Neue ein Abtauchen in die Untiefen mir fremder Welten dar, schroffe, zerklüftete Seelenlandschaften, und wenn ich sie durchwandere, lerne ich von Mal zu Mal mehr darüber, wie diese zumeist jungen Männer (95 Prozent der mir Anvertrauten sind männlich) ticken, wie sie denken, wie sie fühlen, was sie dazu bringt, einen Weg einzuschlagen, der Menschen weltweit ins Verderben stürzt und jene, die den Terror nicht am eigenen Leib erfahren, vor dem Schreckgespenst seines jederzeit möglichen Auftretens erschaudern lässt. Und ich erkenne dabei, dass der Bedrohung, die von diesen Fundamentalisten ausgeht, zwei, ebenso fundamentale, Kommunikationsprobleme zugrunde liegen.
Das eine habe ich bereits am Beispiel des Tschetschenen Musa in Grundzügen angedeutet – und es ist wohl besonders schwer zu lösen, weil es ein gesamtheitlich gesellschaftliches Problem darstellt. Es hat mit einem eklatanten Mangel an Bildung zu tun, im Konkreten damit, dass die allermeisten Muslime, die in die Fänge von IS-Predigern geraten, wenig bis gar nichts über den Islam wissen, sich jedoch aufführen, als hätten sie die Heilige Schrift selbst verfasst. Sie haben zumeist nicht den blassesten Schimmer, was tatsächlich im Koran steht (kennen also nicht eine Sure), haben nicht den Funken einer Ahnung, was die Sunna vorgibt (was also Muhammad, der letzte Prophet, gesagt, getan oder gebilligt hat), und sind auch völlig blank, wenn es um die Hadithe geht, jene Aufzeichnungen also, die das Wirken des Propheten zeigen.
Koran. Sunna. Diese zwei Begriffe kommen im Zusammenhang mit dem Islam besonders häufig vor, und man sollte sie in ihren Grundzügen und Bezügen zueinander erfasst haben, um ein Gespür für die Mechanismen des Islam zu erhalten – einer Religion im Übrigen, die, wie wir noch sehen werden, mit Christentum und Judentum unwahrscheinlich viel gemein hat und sich weniger unterscheiden, als die meisten Menschen es für möglich halten würden.
Unter dem Koran versteht man nicht mehr und nicht weniger als das pure Wort Gottes. Von A bis Z. Was nicht gleichbedeutend ist mit dem Aufruf, auch alles wortwörtlich zu nehmen – schließlich gibt es ergänzende Prophetengeschichten, Metaphern et cetera. Wie auch die Verpflichtung, historische Bezüge nicht einfach auszublenden und die Heilige Schrift eins zu eins auf die Gegenwart anzuwenden.
Der Koran ist die unabänderliche, in allen Fassungen und Sprachen weltweit wortgleiche Botschaft Allahs an die Menschen, herabgesandt an den Propheten Muhammad im Verlauf von 23 Jahren. Sie weist 114 Suren mit einer unterschiedlichen Anzahl von Versen auf und besteht seit nunmehr 1400 Jahren in der ewiggleichen Fassung. Der Koran ist die Hauptquelle der Muslime. Ihn jedoch, wie es oft geschieht, als direktes Gegenstück zur Bibel zu sehen, ist problematisch, wenn nicht grundlegend falsch. Die