Prolog
Selbst in der Nacht kühlte es kaum ab, obwohl sie das Schlafzimmerfenster gekippt hatte. Die Schwüle drückte wie ein Alb auf ihre Brust und erschwerte ihr das Atmen. Halb in der REM-Phase gefangen, strampelte Hendrike Blank die Bettdecke weg, um dem Nachtmahr zu entkommen. Ein leichter Luftzug streifte ihr dünnes Nachthemd. Sie drehte sich auf den Rücken. Der Albtraum blieb.
Ihre Großmutter tritt mit verzerrtem Gesicht auf sie zu. Sie wirkt gebrechlich. Doch sie ist nicht sanft wie zu Lebzeiten, sondern beängstigend. »Du hast die Gene«, krächzt sie mit verzerrtem Gesicht. »Nutze sie, ignoriere die Geister nicht, du Ungläubige!« Und plötzlich ist Hendrike wieder das kleine Mädchen von einst aus dem Dorf in Niedersachsen, das weint, nicht versteht, warum ihre Lieblingsoma sie bedroht. Sie will sie besänftigen, die Großmutter umarmen, wie damals als Kind in ihrer menschlichen Wärme versinken. Plötzlich zückt Amalia Blank etwas Schwarzes, Dunkles. Das Mädchen vermutet eine Waffe und will wegrennen. Doch ihre Beine, schwer wie Blei, verweigern den Dienst …
Hendrike schreckte hoch. Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich bewusst wurde, dass sie kein Kind mehr war, sondern eine erwachsene Frau von 46 Jahren, und bis sie wusste, wo sie sich befand. Amalia Blank war ihrer Enkelin nicht zum ersten Mal im Traum erschienen. Doch seit Hendrike sich entschieden hatte, ihr Erbe anzutreten und als Geisterjägerin zu arbeiten, war sie ferngeblieben. Bis jetzt.
Im Gegensatz zu ihrer Großmutter zog Hendrike die Bezeichnung »Hausentstörerin« vor. Denn sie glaubte weder an Albe noch an Geister noch an Spiritismus, ganz wie ihr Vater. Trotzdem arbeitete sie ehrenamtlich in diesem Metier, und das lag nicht nur daran, dass ihre Großmutter sie sonst im Schlaf heimsuchte. Geister oder Erscheinungen, die sich ihrem Aufgabenbereich zuordnen ließen, waren ihr bei ihren bisherigen fünf Einsätzen noch nie begegnet. Immer steckten natürliche Ursachen hinter den Phänomenen. Und immer konnte sie deshalb ihre Auftraggeber beruhigt zurücklassen. Das bestätigte Hendrike in ihren Überzeugungen. Die Großmutter, nach der sie mit zweitem Vornamen benannt war, hatte sie zudem gelehrt, dass es als Hilfe oft schon reichte, die Menschen mit ihren Ängsten ernst zu nehmen. Damit konnte sie sich arrangieren.
Hendrike lag nun hellwach im Bett und dachte über ihre Familie und ihre sonderliche Großmutter nach. Für Amalia Blank waren Geister so real gewesen wie ihr Wohnzimmertisch, hatten völlig selbstverständlich zum Leben gehört. Von nah und fern waren die Menschen zu ihr gepilgert, um sich beraten zu lassen. Ihr Sohn, Kurt Blank, Hendrikes Vater, hatte sich immer über den unverbrüchlichen Gespensterglauben seiner Mutter lustig gemacht und seine Tochter damit in einen Zwiespalt der Gefühle gestürzt. Hendrike hatte ihre Oma innig geliebt, die Frau mit dem weichen Busen, die immer für sie da gewesen war. Sie liebte aber auch ihren Vater, den Helden ihrer frühen Jahre, den seine Töchter nur den »King« nannten. Weil er sich gegenüber seiner Familie wie ein Alleinherrscher gebärdete und weil er Elvis-Fan war. Doch dann war der Held vom Sockel gestürzt, als er die Oma tätlich angegriffen hatte. Heldenväter taten so etwas nicht. Hendrike war damals fünf Jahre alt gewesen.
Amalia Blank hatte ihrer Enkelin die Zweifel nie übel genommen, sondern ihr eingeimpft: Diffuse Ängste ohne klaren Grund, diese beklemmenden