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Am Abend vor Heiligabend saß Giulia Franca an ihrem Küchentisch und stierte auf ein leeres Blatt Papier. Sie war vor wenigen Tagen umgezogen in die Via Guelfa, Ecke Via de’ Ginori, in ein Zweizimmerappartement in einem ehemaligen Kloster in der Altstadt, mitten im San-Lorenzo-Viertel. Und hatte sich hinreißen lassen, ihre alte Familie einzuladen, die als solche schon lange nicht mehr existierte: Tommaso, ihren Exmann, die beiden erwachsenen Söhne Diego und Simone. So etwas hatte es ewig nicht mehr gegeben. Aber alle drei hatten zugesagt, sie wollten jeweils ihren Anhang mitbringen. Wobei Tommaso sogar neue Kinder hatte und es bei Simone ein Mann war: Er hatte offenbar die Gene der Großmutter geerbt. Giulia hatte keinen neuen Mann, aber dafür einen kleinen Kater: Carlo. Carlo hatte ein schwarzes Fell mit weißen Pfötchen und eine zweifarbige Nase, rot-schwarz, das Geruchsorgan eines Anarchisten.
Carlo schlief auf dem Sofa. Die Küche ging direkt in den Wohnbereich über, der Raum war großzügig und offen. Hohe Decken, undichte, riesige Fenster. Es war kalt und zog Tag und Nacht. Giulia hatte sich einen Schal um die Schultern gelegt. Sie trank ein Glas Vernaccia und überlegte sich ein Menü. Auf dem Tisch brannte eine Kerze. Sie würden zu neunt sein. Die beiden Kinder waren noch klein und würden am liebsten Pasta mit Pesto essen. Diego war wahrscheinlich immer noch Vegetarier. Simone war von jeher ein schlechter Esser gewesen, wobei er Fleisch bevorzugte und Gemüse hasste. Das hätte eigentlich eher zu Diego gepasst. Tommaso war sehr wählerisch. Er reagierte allergisch auf alles Mögliche und hatte erklärt, seine Ehefrau werde den Nachtisch mitbringen.
Gebackene Oliven, schrieb Giulia auf ihren Zettel, Peperonata, Blumenkohl, Linsen, ungesalzenes Brot. Diverse Schinken. Salami. Mortadella. Kutteln. Spaghetti. Frisches Pesto verde. Kalbfleisch. Salat. Kartoffeln. Käse. Panettone. Und Wein.
Es war alles ganz einfach. Kaffee war genug da. Sie musste nur zum Mercato Centrale di San Lorenzo gehen. Auf dem Tisch lag die Lichterkette, die Giulia geschenkt bekommen hatte. Sie wollte sie über dem Fenster befestigen. Da sah sie, im gegenüberliegenden Fenster hinter dem Kreuzgang, keine 20 Meter entfernt, wie eine Frau geschlagen wurde. Sie bekam im Stehen von einem Mann eine Ohrfeige. Giulia wohnte erst ein paar Tage in dem Haus, sie kannte niemanden. Auch dieses Paar nicht. Denn es musste ein Paar sein.
Es gab keine Vorhänge, und die Räume waren hell erleuchtet. Giulia blies die Kerze aus und löschte das Licht. Sie hätte die Fensterläden schließen können, aber sie blieb einfach mitten im Zimmer stehen und blickte gebannt hinüber. Das Paar befand sich in einer Küche, beide waren braunhaarig und noch jung, aber schon nicht mehr ganz schlank. Giulia wunderte sich, dass sie das als Erstes registrierte. Erst dann nahm sie wahr, dass die Frau ihre Arme in einer Abwehrhaltung vor dem Gesicht hielt. Sie verfolgte, wie der Mann schrie und auf sie eindreschen wollte, dann aber innehielt. Stocksteif standen die beiden da. D