KAPITEL 1: Ennui
Das Gewitter hatte in den frühen Morgenstunden begonnen. Es war schnell vorübergezogen, doch der Regen war geblieben und peitschte von Windböen erfasst in unregel mäßigen Abständen an das bis zum Boden reichende bleiverglaste Panoramafenster des Drawing Room. Kein Boot war auf dem Fluss unterwegs, kein Vogel am Himmel zu sehen, und selbst die Rasenfläche vor dem Haus, die bis hinunter zum Ufer führte und auf der man eigentlich immer einen Gärtnergehilfen bei der Arbeit beobachten konnte, war an diesem Vormittag menschenleer. Harriet stand im Erker und zeichnete mit dem Zeigefinger die Wege einzelner Tropfen nach, die eine Zeit lang gerade an den Scheiben herabliefen und dann, wie von einer unsichtbaren Kraft ergriffen, ins Mäandern gerieten.
Wie die Flussschlingen des Dart dort unten, dachte sie müde.
Ein dunkler Schatten huschte plötzlich am Fenster vo rüber. Sie fuhr zurück, nur um gleich aufs Neue zu er schrecken, denn eine Hand hatte sich fast im selben Mo ment auf ihre rechte Schulter gelegt.
»Es war nur eine Krähe«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihr.
Die Hand verschwand, und sie drehte sich um. Dicht vor ihr stand ein Mann. Er war älter, als seine Stimme vermuten ließ. Sie schätzte ihn auf Mitte siebzig. Seine blassblauen Augen waren feucht, und seine große Nase, die die vielen Falten in seinem Gesicht wie ein überdimensionaler Polsterknopf zusammenzuhalten schien, war von roten Äderchen durchzogen. Er musste ihre Anspannung gespürt haben.
»Hallo«, sagte er betont freundlich und setzte dann schnell hinzu: »Ich bin harmlos. Bitte verzeihen Sie, wenn ich Sie erschreckt haben sollte! Sie müssen Socket sein. Mr Weller erwähnte, dass Lady Penelope ihre beste Freundin aus London mitgebracht hat.«
»Mein Name ist Harriet«, antwortete sie, immer noch um Fassung ringend. »Harriet Stableford. Socket ist nur der alberne Name meines Alter Ego in den Detektivromanen meines Mannes. Ich bevorzuge …«
»Natürlich!«, unterbrach sie der Mann verlegen. »Ich muss mich wohl erneut entschuldigen. Percy hatte Sie einmal so genannt, aber das ist schon einige Zeit her und war vielleicht im Scherz geschehen.« Er zögerte einen Moment, lächelte dann und sagte: »Ich bin Dicky – und kann leider keinen Autor für diesen Spitznamen verantwortlich machen.«
»Sir Richard?«, fragte Harriet überrascht und nahm die Hand, die ihr der Mann jetzt entgegenhielt. »Sie sind Percys Patenonkel, Sir Richard Banbury-Blake, nicht wahr?«
»Das ist richtig, aber bleiben wir doch bei ›Dicky‹! So kennt man mich hier, und es wäre töricht und für alle verwirrend, wenn ich von Ihnen verlangen würde, mich anders zu nennen. Ist es Ihr – erstes …«
Harriet sah auf ihren Bauch, auf den er vorsichtig zeigte, und l