: Robert Misik
: Die falschen Freunde der einfachen Leute
: Suhrkamp
: 9783518763759
: 1
: CHF 18.00
:
: Politik und Wirtschaft
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Alte Parteien verschwinden, neue tauchen auf, die Leitplanken des Diskurses verschieben sich. So chaotisch die politische Situation sich darstellt, so unübersichtlich ist das Angebot an Deutungen für den Aufstieg des autoritären Nationalismus: Die einen erklären ihn mit Politikverdrossenheit und amorpher Wut, andere mit ökonomischen Faktoren wie Globalisierung und wachsender Ungleichheit, wieder andere führen ihn auf die vermeintliche kulturelle Abwertung von Menschen mit konventionellen Werten und Lebensstilen zurück.

Für sich genommen, so Robert Misik, ist jede dieser Erklärungen viel zu simpel gedacht. Ökonomische und psychopolitische Dynamiken schaukeln sich hoch. Die verborgenen Verwundungen in einer Klassengesellschaft brauchen multikausale Erklärungen - und radikale Antworten.



Robert Misik, geboren 1966 in Wien, ist Journalist und politischer Schriftsteller. In der edition suhrkamp erschien zuletzt sein Essay<em>Die falschen Freunde der einfachen Leute</em> (es 2741), der mit dem Bruno- Kreisky-Preis für das Politische Buch 2019 ausgezeichnet wurde.

Einleitung:
Kleiner Mann, was nun?


Man könnte leicht dem Eindruck erliegen, in der Geschichte wäre den »einfachen Leuten« selten mehr Aufmerksamkeit zuteilgeworden als heute. Sie sind in aller Munde. Jeder sorgt sich um »das Volk«. Die politische Essayistik seziert seine Probleme und staunt über sein Tun. Die Wissenschaft befasst sich mit seinen Verwundungen. Die Sozialpsychologie denkt sich in ihn ein – in den viel zitierten »kleinen Mann«. Die einfühlende Soziologie schwärmt aus und hört ihm zu, sammelt und systematisiert seine Erzählungen, die Beschwernisse seines Lebens und seine Wünsche.

Ressentimentgetriebene Populisten und Rechtsextremisten wiederum schwingen sich zu den Fürsprechern der »einfachen Leute« auf, für die sich, so wird durchaus begründet behauptet, die »Eliten« nicht mehr interessieren. Demokratische Linksparteien wiederum versuchen verzweifelt zu ergründen, warum die kommunikativen Fäden zu den »normalen Leuten« abgerissen sind. Sehr oft ist dieses Nachdenken überaus voraussetzungsreich: Mal wird unterstellt, das »einfache Volk« sei gewissermaßen dumm und deshalb leicht manipulier- und verhetzbar; dann wiederum, es sei im Innersten gut, trage das Herz am rechten Fleck. In ihm schlummere gewissermaßen das »Echte«, das »Wahre« und vor allem ein egalitärer Geist, der von rechtsextremen Protestpolitikern lediglich fehlgeleitet werde. Beliebt ist auch die Deutung, die demokratischen Linksparteien seien zwar gleichsam die natürliche Vertretung dieser kleinen Leute, hätten vor dieser historischen Aufgabe aber versagt, indem sie sich an den Neoliberalismus anpassten. Dabei schwingt dann leicht die Diagnose – oder Rezeptur – mit, diese Parteien müssten nur wieder eine Sozial- und Wirtschaftspolitik betreiben, die die »ökonomischen Interessen« der normalen Leute ins Zentrum rücke, und schon würden die Angehörigen der entsprechenden Milieus, verlorenen Schäfchen gleich, zu ihren angestammten Vertretungen zurückkehren. Also: Reichensteuern, bezahlbare Pflege, ordentliche Mindestlöhne, günstige Wohnungen schaffen, einen zweiten Arbeitsmarkt für diejenigen, die am normalen Arbeitsmarkt keine Chancen mehr haben, und hundert weitere Maßnahmen – und schon wäre das Glaubwürdigkeitsproblem aus der Welt. Nicht immer, aber sehr oft geht mit dieser Deutung ein regelrechter Proletkult einher, der alles, was »das Volk« so denkt, fühlt, treibt und liebt, mit einer Romantik des Authentischen verbindet, und dessen Anhänger sich ein Volk imaginieren, das voller Würde, Großzügigkeit, Lebendigkeit ist, getragen von einer Moral, die zweifellos besser sei als die heute hegemonialen Ethiken, die Erfolg vergöttern, eine Winner-Mentalität stärken und einem Kult des Individuellen huldigen.

Zu den stillschweigenden Voraussetzungen zählt natürlich auch, dass dieses »einfache Volk« auf der sozialen Stufenleiter irgendwo im unteren Bereich, jedenfalls keineswegs im oberen Segment zu finden ist. Freilich bleibt die soziale Standortbestimmung meist im Ungefähren. Selten werden die »einfachen Leute« pauschal als die Unterschicht oder als die Armen definiert. Eher ist es ein Puzzle von Milieus und Lebenslagen, zu denen gehören: die Armen und die Unterschichten, die unteren und die mittleren Mittelschichten. Menschen, die am Land oder in kleinen Städten wohnen. Arbeitslose um die fünfzig, der Installateur, der im Sozialbau lebt, aber auch Facharbeiterinnen, Verkäufer und sogar mittlere Angestellte mit Einfamilienhaus und zwei Autos in der Einfahrt. Weiters die Bewohner unterprivilegierter Stadtviertel, der Scherbenviertel, in denen man von Gentrifizierung noch nichts gesehen oder gehört hat und in deren Hauptstraßen die Eckkneipen und Nahversorgungsläden nach und nach zusperren, wo die Geschäfte leer und zugenagelt sind oder wo höchstens Dönerbuden und Wettbüros aufmachen. Wenn schon nicht der Kontostand, dann, so lautet die – gelegentlich explizite, meist jedoch implizite – Vermutung, verbinde die als »die einfachen Leute« apostrophierten Bevölkerungsgruppen ein gewisses Set an Werten, Haltungen und Überzeugungen. Dass die Rollen von Mann und Frau noch eher klassisch definiert würden, dass man mit zeitgenössischen Gender-Ideen eher wenig am Hut habe, dass man traditionellen Wertvorstellungen anhänge und mit den intellektuellen Spleens »postmoderner urbaner Mittelschichten« nur wenig anfangen könne. Man sei in diesen Milieus zwar keineswegs intolerant, müsse diese Toleranz aber nicht als modische »Diversity-Begeisterung« vor sich her tragen. Ein »Leben und leben lassen«, dass jeder nach seiner eigenen Fasson glücklich werden soll, ein gewisser Grundrespekt gegenüber Kolleginnen und Nachbarn werden durchaus ebenfalls zur Moralgrundausstattung der »kleinen Leute« gerechnet. Man konsumiere lieber Bier als Getränke mit seltsamen Namen und komischen Farben, wobei der Aperol Spritz langsam auch in der Welt der »einfachen Leute« Anerkennung findet.

»Einfache Leute«, das kann eine leicht herablassende Zuschreibung seitens jener sein, die sich nicht als »einfache Leute« fühlen – aber sehr viel häufiger ist es die stolze Selbstbeschreibung derer, die sich diesen Milieus der »Normalen« zurechnen. »Da, wo ich lebe«, formulierte es eine Frau aus Österreich einmal auf Twitter, »bedeutet ›einfacher Mensch‹ ›anständiger Mensch‹, weil man ein bescheidenes (oder weniger bescheidenes) Auskommen hat, das man mit ehrlicher Arbeit (meistens körperlicher) erschafft.«

Wichtig ist bei dieser Projektion des »kleinen Mannes«, dass man ihn sich in aller Regel als einheimischen, weißen Mann – oder als einheimische, weiße Frau – vorstellt. Zwar können alle ökonomischen und sozialen Charakteristika, die hier schnell und karikaturhaft skizziert wurden, auch auf Migranten und Migrantinnen zutreffen, aber die »einfachen Leute« kommen in diesem halb diskursiv, halb durch das reale Leben erzeugten Bild doch eher selten als Türken, Afghanen oder Pakistaner vor. Serben, Kroaten oder Polen können es, etwa in Deutschland oder Österreich, vielleicht zu einer Art Anwartschaft auf den zweifelhaften Ehrentitel »kleiner Mann« bringen, aber das auch nur, wenn sie vierzig Jahre fleißig geschuftet haben und einigermaßen fehlerfrei die Landessprache beherrschen. Und selbst dann bleibt es eben bei der Anwartschaft, auf die letztlich fast nie die völlige Aufnahme ins diffuse Allgemeine – »das einfache Volk« – folgt.

In jedem Falle gehört das, was von der früheren »Arbeiterklasse« übrig geblieben ist, zum »Volk«, also zur vielgesichtigen Menge der »einfachen Leute«. Zugleich ist das Volk aber auch irgendwie mehr als diese Arbeiterklasse. Dieses Mehr könnte man in soziologischen Begriffen exakt zu beschreiben versuchen, was einem freilich auch nicht wirklich weiterhelfen würde. Denn was die »einfachen Leute« vor allem auszeichnet, ist die Diffusität der Kategorie selbst.

Wir sehen also: Zu den Seltsamkeiten, an denen unsere Zeit ohnehin nicht arm ist, gehört die Tatsache, dass wir nicht recht wissen, wie wir zu den Leuten da draußen vor unserer Türe überhaupt sagen sollen. Klar, wir sind alle Bürger und Bürgerinnen unseres jeweiligen Gemeinwesens, und zusammen bilden wir die Bevölkerung. Aber gerne wird eben auch vom »Volk« gesprochen, und da beginnen die Probleme schon. Das »Volk« ist schließlich ebenfalls mit Projektionen aufgeladen, der Begriff umkämpft, und es ist unklar, wer dazugehört. Selbst in seiner unschuldigsten Schwundform schwingt im Begriff »Volk« eine Homogenität mit, die »Bevölkerung« gerade nicht hat.

Man redet lieber vom »kleinen Mann«, von den »einfachen Leuten«, dem »normalen Volk« oder wie die Phrasen alle heißen. Vom »regular guy« reden die Amerikaner. Nun kann man natürlich sagen: Es gibt kein Volk, sondern nur eine Bevölkerung. Das ist zwar einerseits richtig, wird aber andererseits nicht alle überzeugen – vor allem die nicht, die sich aus Gründen, die sie oft wahrscheinlich nicht allzu präzise angeben können, als das »normale Volk« betrachten.

Wer heute vom »Volk« spricht, meint also meist nur einen Teil des Volkes, also der Bevölkerung, der sich durch bestimmte Eigenarten auszeichnet. Erstens versteht es sich selbst als das »einfache Volk«, das respektlos behandelt oder ignoriert wird, und zwar von »ihnen«. »Ihnen«, das können sein: die Politik, die Eliten, die Mittelschichten, die auf die Konventionen und kulturellen Identitäten...