4.
Zwei Jahre später
Wie haben Sie sich kennengelernt?«, fragte die Therapeutin. Vermutlich dachte sie, das vor ihr sitzende Pärchen würde sich gerade lächelnd an einen romantischen Schlüsselmoment erinnern. Ein erster Ansatzpunkt für eine erfolgreiche Paartherapie, zu der sie beide sich kurzfristig angemeldet hatten.Zehn Sitzungen à neunzig Minuten. Zweihundert Euro pro Termin. Ein Schnäppchen, sollte es Dr. Henriette Rosenfels tatsächlich gelingen, ihnen einen Wegweiser durch den Problemdschungel ihrer jungen Beziehung aufzustellen. Oder wenigstens einen Ratschlag zu geben, wie man den Tag überstand, ohne sich den Kopf einzuschlagen.
Wobei, genau so hat es ja angefangen, dachte Milan, und das war der Grund, weshalb auch Andra lächelte.
»Ich hab ihm mit dem Baseballschläger eins übergezogen«, beantwortete sie die Frage der Eheberaterin, und Milan ergänzte: »Es war Liebe auf den ersten Hit.«
Beim ersten Händeschütteln am Eingang der Moabiter Altbaupraxis hatte er noch gedacht, Dr. Rosenfels wäre eine Großkundin der Botoxindustrie. Für eine Frau von achtundfünfzig Jahren hatte die grauhaarige Brillenträgerin eine ungewöhnlich straffe Haut (als hätte sie sich einen Luftballon übers Gesicht gestülpt, war sein erster Gedanke gewesen), doch jetzt lag Rosenfels’ Stirn in Falten.
»Wie darf ich das verstehen?«, fragte sie stirnrunzelnd.
»Andra ist Kellnerin. Vor zwei Jahren wollte ich an Heiligabend ihr Restaurant überfallen. Doch ihr kluger Kopf hatte meine Masche durchschaut.«
»Sie legen jetzt besser auf?«, hatte Andra ihn höhnisch zitiert, als Milan wieder zu sich gekommen war. »Mann, mein Ex war Polizist. Nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber selbst der hätte bei einer Geiselnahme die Verbindung zum Opfer gehalten.«
Der ungläubige Blick der Therapeutin wanderte zu Andra, die mit einem »Traurig, aber wahr«-Seufzer Milans Geständnis wortlos bestätigte.
»Ich glaube, ich kann schon jetzt sagen, dass Sie ein wahrlich ungewöhnliches Paar sind.« Dr. Rosenfels lächelte, und Milan musste ihr recht geben. Schon äußerlich passten Andra und er nicht zusammen. Er, der konservativ-unauffällig gekleidete College-Boy mit Sneakers, Jeans und Poloshirt. Sie, drei Jahre älter als er, die ihr Outfit als »Rummel-Gören-Style« beschrieb. Schwarze Biker-Boots, stahlblau gefärbte, schulterlange Haare, knallbunte Leggings, ein Faltenminirock mit Totenkopfmotiven, dazu ein grüner Hoodie mit der Aufschrift: »Jesus liebt dich. Alle anderen halten dich für ein Arschloch.«
Derselbe Hoodie, den sie am Tag ihres Kennenlernens getragen hatte.
Wobei »kennenlernen« eine durchaus euphemistische Umschreibung für »halb totschlagen und bewusstlos in ein Hinterzimmer verschleppen« war.
Laut Dr. Google hatte Andra ihm damals mit der Baseballkeule eineKalottenfraktur ohne zerebrale Beteiligung zugefügt, auch wenn es sich für ihn eher danach angefühlt hatte, als hätte sie ihm zur Begrüßung die Stirnplatte durchs Gehirn gejagt. Selbst Monate später noch hatte Milan hektische Bewegungen mit tränenden Augen bezahlen müssen, und auch heute wachte er manchmal mit einer Abrissbirne hinter der Stirn auf, einfach nur, weil er in seinen Albträumen den Kopf zu heftig hin- und hergerissen hatte.
Doch immerhin hatte er den Schädelbruch ohne ärztliche Behandlung überlebt. Anders als die Kopfverletzung in seiner Kindheit. Milan war auf Rügen groß geworden. Als Vierzehnjähriger hatte er mehrere Wochen im Krankenhaus verbringen müssen, nachdem er zu Hause die Kellertreppe hinuntergefallen war. Den zweiten Schädelbruch seines Lebens hatte er allein mit Katadolon und Kühlkissen auskuriert.Ein Wunder, wie seine Recherche in diversen medizinischen Foren ihm immer wieder bescheinigte. Aber kein so großes Wunder wie seine Beziehung zu Andra.
Als Milan eine halbe Stunde nach dem missglückten Überfall aufwachte – auf dem Sofa im Büro des Restaurantleiters liegend, mit einem Orchester schief gestimmter Instrumente im Kopf –, hatte er damit gerechnet, dass Andra das zu Ende bringen würde, womit sie angefangen hatte. Erst eine Woche zuvor hatten die Medien über einen Späti-Besitzer berichtet, der im Prenzlauer Berg einen Ladendieb totgeprügelt hatte, stellvertretend für all die anderen Halunken, die ihm all die Jahre durch die Lappen gegangen waren. Doch die überraschend zierlich gebaute Frau mit dem Engelsgesicht krümmte ihm kein weiteres Haar mehr. Auch rief sie nicht die Polizei. Andra tat etwas, womit Milan im Leben nicht gerechnet hatte: Sie machte ihm ein Jobangebot.
»Was für eine Verschwendung. Ein hübscher Kerl wie du mit so einer kreativen Intelligenz. Wieso machst du so einen Scheiß und hast keinen normalen Beruf?«
Es verging kein Tag, an dem er sich nicht mehrmals an ihre ersten Worte erinnerte. Und an die Antwort, die er ihr bis heute schuldig geblieben war:»Ich bin Analphabet. Ich kann nicht lesen und nicht schreiben. Hab es nie gelernt, so wie Millionen andere Menschen in Deutschland.«
»Manchmal denke ich, Milan ist eine gespaltene Persönlichkeit«, sagte Andra, die noch immer keine Ahnung hatte. So sehr schämte sich Milan für das, was ihn von all seinen Mitmenschen unterschied.
»Ich meine, er hat mir von seinem Vater erzählt, für dessen Betre