: Corinna Mell
: Damals in Berlin Roman
: Verlagsgruppe Droemer Knaur
: 9783426455524
: 1
: CHF 6.50
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 384
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Jugend unserer Mütter: Spannend und facettenreich erzählt Corinna Mells Roman vom Leben in den sechziger Jahren, von APO und Studenten-Revolte, von Hippies, Kommunen und freier Liebe, und von den Frauen, die sich das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben erst noch erkämpfen mussten. 1967 in West-Berlin: Die 31-jährige Monika ist geschmeichelt, als ihr der fast zehn Jahre jüngere Lehramts-Student Jens Avancen macht. Schon beim ersten Rendezvous verliebt sie sich Hals über Kopf in den wortgewandten APO-Aktivisten. Nach und nach beginnt Monika, die Welt mit Jens' Augen zu sehen. Sind die gesellschaftlichen Veränderungen, die er und seine Freunde fordern, nicht wirklich längst überfällig? Es ist der gewaltsame Tod des Studenten Benno Ohnesorg, der Monika endgültig von den Zielen der Studenten-Bewegung überzeugt. Sie hat bereits die Mietbürgschaft für eine Wohnung unterschrieben, in der Jens mit ihr eine Kommune gründen will, als etwas geschieht, das sie den Egoismus hinter Jens' hehren Idealen erkennen lässt ... Im Vorgänger-Roman »Marienfelde« erzählt Corinna Mell die Geschichte von Monikas Freundin Sonja, die sich in den fünfziger und sechziger Jahren im Notaufnahmelager Marienfelde für Menschen einsetzt, die die DDR verlassen haben.

Corinna Mell wurde Ende der fünfziger Jahre in der Nähe von Osnabrück geboren. Ihre berufliche Laufbahn begann im Einzelhandel, und ihre ersten Versuche im kreativen Schreiben machte sie mit knapp 30 Jahren während der Schwangerschaft mit ihrer Tochter. Corinna Mell lebt als freie Autorin in Berlin und in der Nähe von Köln. Ihre Begeisterung für Geschichte und Soziologie hat sie zu diesem Roman inspiriert.

Salon Ebeling


Wenn unserLeo reden könnte!«, sagten die Leute im Wedding. Ja, der Leopoldplatz hätte viel zu erzählen. Im 19. Jahrhundert hatte der große Baumeister Schinkel hier die Alte und die Neue Nazarethkirche errichten lassen, denn immer mehr Neuberliner brauchten eine Bleibe für ihren protestantischen Glauben. Doch selbst die Gotteshäuser auf dem Platz konnten nicht den Mord an einem siebenjährigen Kind verhindern. Als Täter verdächtigte man einen Serienmörder, der wohl etliche Frauen und Mädchen auf dem Gewissen hatte. Wie viele genau, hatte er selbst nicht mehr gewusst.

Auch Ilse Ebeling kannte diese Geschichte, als sie 1950 am Leo nach geeigneten Gewerberäumen suchte.

»Kann man sich ja kaum vorstellen«, meinte sie beim Blick durch das Schaufenster hinaus auf die Straße und weiter auf den Platz. »Links eine olle Kirche von Schinkel, rechts eine olle Kirche von Schinkel, drumrum schönes Grün und dazwischen ein gemeucheltes Kind.«

Zur Besichtigung der Räume hatte Ilse sich Verstärkung mitgebracht. Ihr Bruder Karl und seine vierzehnjährige Tochter Monika begleiteten sie.

Auch Monika kannte die Geschichte vom Mord an dem Schulmädchen auf dem Leopoldplatz. »Ach, Tante. Das ist doch schon so lange her.«

Genauso sah es Monikas Vater: »Lass die alten Zeiten ruhen, Ilse. Das war letztes Jahrhundert. Da hat Kaiser Wilhelm der Erste noch regiert. Du musst hier nicht in die Kirche gehen, und ermorden will dich auch keiner. Es sei denn, du drehst den Frauen die Locken falsch. Nimm diese Räume, die Lage ist jedenfalls bestens.«

»Na schön. Aber wenn ich hier pleitegehe, seid ihr schuld.«

Doch Ilse ging nicht pleite, als sie kurz darauf am Leopoldplatz ihren Damensalon eröffnete. Im Gegenteil: Nach kaum einem halben Jahr hatte sie sich einen festen Stamm von Kundinnen aufgebaut. Und siebzehn Jahre später, am 20. Mai 1967, einem Sonnabend, feierte Ilse ihren beruflichen Abschied.

Die neue Chefin des Salons, Friseurmeisterin Monika Ebeling, schob ihre Tante durch den Flur in den Kassenraum. Die Registrierkasse stand allerdings in der Ecke, Monika hatte den Verkaufstresen zweckentfremdet. Wo sonst ihre Kundinnen die neue Wasserwelle bezahlten oder sich ein Parfum aussuchten, sollten heute süße Köstlichkeiten die Augen und Gaumen der Gäste erfreuen.

Sie beugte sich zum Rollstuhl hinunter. »Und? Was sagst du?«

Vor vierzehn Jahren war Ilse an Nierenversagen erkrankt, seitdem musste sie mehrmals wöchentlich zur Blutwäsche. Vierzehn Jahre, damit hielt sie am Städtischen Krankenhaus Wedding den Rekord. Sieben Patienten hatten im Sommer ’53 mit der Behandlung angefangen, von diesen sieben lebte nur noch Ilse. Doch nun werde es auch mit ihr bald zu Ende gehen, sagten die Ärzte. Jeden Tag baute sie weiter ab, vor allem die Arterienverkalkung im Gehirn wurde schlimmer.

Monika strich ihr über die Wange, die blassgraue Haut fühlte sich an wie dünnes Papier. »Na, das ist doch wohl ein Prachtbüfett. In der Mitte haben wir Platz gelassen, Karin bringt gleich noch vier Torten mit.«

Ilses Blick schweifte über die süße Verführung. »Vier Torten noch? Die passen da doch gar nicht mehr drauf.«

»Die stellen wir übereinander, auf eine Etagere. Du weißt doch, Karin hat eine große Bäckerei. Mit neun Läden.«

Ilse schien sich zu erinnern. »Und wann kommt Karin?«

»So in einer halben Stunde. Und sie kommt nicht allein. Sonja und Silke kommen auch. Und dann noch Dörthe und Margit, alle in Sonjas Käfer. Sonja und Silke fahren in Zehlendorf los und holen die anderen in Charlottenburg ab, und dann kommen alle fünf zu uns. Und die vier Torten bringen sie mit.«

Die Tante zögerte. »Das hast du alles schon mal erklärt, oder?«

»Macht ja nichts. So viele Namen, das ist eben kompliziert.«

»Du machst alles so gut!« Ilse griff nach Monikas Hand und drückte sie sich an die Wange. »So gut. Ihr gebt euch solche