: Helmut Haberkamm
: Die warme Stube der Kindheit Erzählungen
: ars vivendi
: 9783747200537
: 1
: CHF 13.40
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 200
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Eine Stunde hat viele Gesichter, und ein einziger Tag unglaublich viele Jahre.' - Helmut Haberkamm ruft Erinnerungen an vergangene Zeiten wach, an alte, beinahe in Vergessenheit geratene Redewendungen und Wörter, auch, 'mit langen, staubbraunen Schatten, mit Wärme und Licht'. Ebenso einfühlsam wie kritisch erzählt er von den Wunden, die das letzte Jahrhundert in den Familien und in der Gesellschaft hinterlassen hat. Die Geschichten seiner Figuren handeln von Schicksalsschlägen und Ausgrenzung, aber auch von den hellen Momenten, die das Leben immer wieder bereithält. Und wenn Haberkamms Erzählungen in Franken angesiedelt sind und seine Sprache auf unvergleichbare Art vom Mündlichen, dem Fränkischen, gefärbt ist, so wird doch klar, dass er auf kleinem Raum von der ganzen Welt spricht - und von dem, was uns als Menschen ausmacht. Ein echtes Lese-Highlight!

Helmut Haberkamm, 1961 in Dachsbach geboren, zählt zu den bekanntesten und vielseitigsten fränkischen Schriftstellern. Er ist promovierter Germanist, Anglist und Amerikanist und als Mundartdichter, Theater- und Romanautor sowie als Betexter von Bäckereitüten und Kunstfotografien tätig. Außerdem ist er Initiator des Mundartfestivals Ezerdla. Bei ars vivendi erschienen zuletzt der Gedichtband 'Englische Grüß' (2017) sowie das literarische Sachbuch 'Kleine Sammlung fränkischer Dörfer' (2018).

 

Ein Tag mit so vielen Jahren

»Weinst du, weil du heute was verloren hast?« Als Ernst seiner Frau Hannelore diese Frage stellte, war sie für einen Augenblick perplex. Es war der Tag, an dem ihre Tochter Elke heiratete, und Hannelore hatte Tränen in den Augen. Ernst freute sich überschwänglich mit seiner Tochter, machte Scherze und Grimassen, lachte laut auf und schlug Bernd, seinem gutmütigen Schwiegersohn, kameradschaftlich auf die Schulter, als würde er einen Teppich ausklopfen. Hannelore fiel ein Satz ihrer Mutter wieder ein, den sie schon beinahe vergessen hatte: »Wenn die Tochter heiratet, weint die Mutter.« Erst jetzt spürte sie, wie wahr dieser Spruch eigentlich ist.

Auf den Tischen standen halbgeleerte Kuchenplatten und benutzte Porzellantassen herum, dazwischen verschmierte Sektgläser, Tortenreste und Kannen mit abgestandenem Kaffee. Die Bedienungen hatten schon begonnen, die Tische abzuräumen und alles für das Abendessen vorzubereiten. Hannelore verließ die Hochzeitsgesellschaft, um sich etwas die Beine zu vertreten und ein paar Minuten ganz für sich zu haben, ohne Trubel und Geplauder. Ihr Mann saß bei seiner Verwandtschaft, die er schon lange nicht mehr gesprochen hatte. Die jungen Leute waren aufgebrochen zu ihren Freunden in entfernten Kneipen und Biergärten. Die entscheidenden Fotos waren alle im Kasten und der Alleinunterhalter noch nicht aufgetaucht. Hannelore schlenderte scheinbar ziellos hinunter zum Fluss, wo es Rasenflächen und gepflasterte Wege gab mit Holzbänken und einem Spielplatz. Obwohl dort viele neue Geräte und abenteuerliche Aufbauten zu sehen waren hinter dem makellosen Metallzaun, war weit und breit kein Kind zu sehen, auch keine Mutter mit einem Kinderwagen, ebenso wenig irgendwelche Rentner oder Spaziergänger. Ein Samstagnachmittag, an dem Fußballreportagen, Hausputz und Baustellen wichtiger waren als alles andere.

Mit einem Seufzer der Erleichterung setzte sich Hannelore auf die massive Holzbank und spürte mit einem Mal, wie schwer und müde ihr Körper sich anfühlte. Sie war unsagbar froh, dem Stimmengewirr, Gewusel und Geflatter der Hochzeitsgesellschaft entkommen zu sein, um sich etwas erholen und sammeln zu können. Dennoch fühlte sie einen kühlen Schatten, der sie wehmütig und einsam machte. Sie war weder unglücklich noch trübsinnig, sondern nur von einer unnennbaren Traurigkeit erfüllt, die in ihr ruhte wie das Wasser im Bergsee. Hannelore wusste selbst nicht so genau, warum sie »der schönste Tag im Leben unserer Tochter«, wie ihr Mann ihn seit Wochen nur noch nannte, so traurig machte. Eigentlich gibt es tausend Gründe, froh und dankbar zu sein, das wusste sie sehr gut.

Momente ihres Lebens kamen ihr schlagartig ins Gedächtnis, und merkwürdige Gedanken tauchten dazu auf, wie vermummte Fremde. Elke ist nicht ins Wasser gefallen und ertrunken damals. Kein Weiher und kein See, weder Fluss noch Meer hatten ihr ein Leid zugefügt. Selbst damals, als Elke von der Strömung hinausgetrieben wurde weit weg vom Strand, als Ernst und Hannelore am Ufer standen und schrien, kam Rettung herbeigeeilt, und alles war gut. Wahrscheinlich wusste Elke heute gar nichts mehr von diesem Moment des Schreckens, der Hannelore vor Angst zittern und schluchzen ließ.

Nein, Elke war behütet geblieben. Keine Krankheit, kein Fieber, keine Ansteckung konnten ihr etwas anhaben. Kein Herzfehler, kein Hirndefekt, kein Krebs riss sie aus diesem Leben weg. Sie lebte. Eine schöne, fröhliche junge Frau, die beherzt ihren Weg gehen konnte. Sie starb durch keinen Unfall, kein Unglücksfahrer brachte ihr einen plötzlichen Tod, kein Flug