I.
Priesterbild im Wandel
Bevor wir nach der Entstehung, Entwicklung und aktuellen Geltung der priesterlichen Ehelosigkeit fragen, soll der Wandel im Verständnis von Wesen und Aufgabe des Priesters skizziert werden. So sonderbar es klingen mag, ein Blick in die Geschichte zeigt bereits deutlich: Priesterbild und Priesterzölibat bedingen einander weithin.
Das alttestamentliche Priestertum fand im Neuen Testament keine Fortsetzung. Mit dem Sühnetod Jesu Christi, des einzigen Hohenpriesters, war das Priestertum zu Ende gegangen. Der Begriff, den wir deutsch mit Priester (griech. presbyteros, d. h. Älterer) wiedergeben, bezeichnet im hebräischen kohen, im griechischen hiereus und im lateinischen sacerdos den aus dem profanen Bereich ausgesonderten und einem heiligen Stand angehörenden Kultbeauftragten, dessen Hauptaufgabe im Darbringen des Opfers besteht. Dieser Begriff bezieht sich aber im ganzen Neuen Testament nirgends auf die Apostel und ihre Mitarbeiter. „Kein einziger Apostel wird im Neuen Testament als Priester bezeichnet, von keinem Apostel spricht ein neutestamentlicher Text als von dem Leiter einer Herrenmahlfeier. Keinem Presbyter oder Episkopen wird eine besondere Vollmacht und Verantwortung für den Gemeindegottesdienst ausdrücklich zugesprochen.“1 Unter den Mitgliedern der Kirche als des neuen Gottesvolkes gab es anfangs keine wesentlichen Unterschiede. Sie alle zusammen waren das Volk (griech. laos), d. h. Laien. Die einzelnen Kirchengemeinden hatten zwar Vorsteher (Episkopen bzw. Presbyter) und Diener (Diakone) mit jeweils eigenen Aufgaben, aber keine Kultpriester wie in den Tempeln der Heiden oder im Jerusalemer Tempel. „Das Neue Testament kennt weder geweihte Personen noch eigene Kultorte, weder Opferhandlungen noch heilige Zeiten der Christen.“2 Noch fehlte also der Priester im kultisch-sacerdotalen Sinn.
Doch je weiter dieser jesuanische Ursprung aus den Augen verschwand, desto mehr erfuhren die kirchlichen Dienste eine Interpretation, welche dem Neuen Testament fremd ist. Ein qualitativ neuer Sprung erfolgte im 3. Jahrhundert: Man begann zwischen Priestern (jetzt nicht mehr im Sinn des früheren Presbyter!) und Laien klar zu unterscheiden. Auf diese Weise traten zwei Stände ins Leben, von denen der des „qualifizierten“ Amtsinhabers den des „gewöhnlichen“ Laien bald weit übertraf. Diesen Sachverhalt bringt der dem Neuen Testament selbst fremde Begriff Hierarchie (griech. hiera archä = heilige Herrschaft) zum Ausdruck. Während die ersten Christen mit dem Brotbrechen und Brotessen beim Gottesdienst noch ihre Distanz zum Opferkult und Priestertum in Jerusalem bekundeten, erlebte das Amt des Aufsehers (Episkopos) ebenso wie das des Ältesten (Presbyter) vom 3. Jahrhundert an eine spezifisch priesterliche (sacerdotale) Umdeutung, die sich auch auf die Lebensführung des (neuen) Priesters auswirken mußte. Diese neue Sicht erhielt im Hochmittelalter ein theologisches Fundament durch die scholastische Lehre, dass die Ordination (Priesterweihe) ein „unauslöschliches Siegel“ (Charakter) einprägt, mit dem eine seinsmäßige Veränderung in der Person des Empfängers verbunden ist.
Erste Spuren dieser höchst bedeutsamen Entwicklung finden sich schon in einem um das Jahr 96 verfassten Brief, der allein Klemens von Rom zugeschrieben wird, obwohl die Christengemeinden in Rom und in Korinth zu dieser Zeit noch kollegiale Leitungen besaßen. Diesem