Glasklar
Ganz kurz vor meinem Rückflug aus Australien erreicht mich Caros Mail: »Wenn du nächste Woche bei uns bist, würde ich total gern ein Abendessen mit Martin, Sina und Carsten organisieren. Es wäre doch schön, wenn wir uns alle mal wiedersehen und deinen Abschluss und deine Reise feiern. Was hältst du davon?«
»Na klar, warum nicht. Ich freue mich so sehr auf dich! Kuss!
PS: Welcher Carsten denn?«, schreibe ich völlig ahnungslos zurück.
Ihre Antwort erreicht mich nicht mehr.
Ich steige in das Flugzeug, das mich in 24 Stunden von Sydney über Dubai nach Hause bringt, und denke nicht weiter darüber nach.
Zwei Wochen werde ich noch an der Nordseeküste bei meinen Eltern verbringen, bevor es in München für mich so richtig losgehen soll. Dieses komische Gefühl, das ich nicht einordnen kann und das immer dann auftaucht, wenn ich über meine Zukunft in München nachdenke, wird nun von Tag zu Tag stärker. Was ist das bloß? Ich bin aufgeregt, das muss ich zugeben.
Mein erster Job als Assistentin in einer Agentur für Modemarketing steht mir bevor und macht mich schon ein bisschen nervös. Ob ich die Aufgaben meistern werde, die da auf mich zukommen? Ob es mir dort gefällt? Eigentlich sollte ich doch voller Vorfreude sein. Aber irgendetwas stimmt nicht. Vielleicht ist es ja auch München selbst? Das australische Hang Loose ist mir in den letzten zwei Monaten sehr ans Herz gewachsen und passt so gar nicht zu dem Pulsschlag der Stadt, der mich erwartet. Job und München künftig entsprechen zu müssen, verunsichert mich schon hin und wieder.
Das Flugzeug hebt ab, und mir wird etwas flau im Magen. Ich kann nicht genau sagen, ob es an dem ruckeligen Start oder an meinen ruckeligen Gedanken liegt.
Seltsame Gefühle beiseitezuschieben, als ich mit vom Wind zerzausten Haaren in Byron Bay saß und auf die Wellen blickte, war einfach. Jetzt, über den Wolken mit direkter Destination Richtung Zukunft, ist es das nicht mehr. In zehntausend Metern Höhe rase ich auf meinen nächsten großen Lebensabschnitt zu. Ich habe den Drang, die Stewardess zu fragen, ob wir nicht doch lieber umdrehen können. Stattdessen bestelle ich ein Bier, schaue einen Film an und schlafe wenig später ein.
In dem Moment, in dem der Flieger aufsetzt, fällt mir ein, welchen Carsten Caro gemeint hat: ihren Bruder!
Ich erlaube mir eine kurze Erinnerung an den Moment, als ich ihn das erste Mal sah: 1998 – irgendwann im Sommer. Damals war ich noch nicht mal ganz volljährig. Bei dem Gedanken an die Zeit muss ich schmunzeln. Meine Besty Caro und ich wollten Popstars werden, und wir meinten es sehr ernst damit. Glücklicherweise hatte Caro einen zehn Jahre älteren, angeblich sehr wilden Bruder, den ich bisher nur aus Geschichten kannte. Dieser Bruder verdiente seinen Lebensunterhalt als Fahrradkurier und machte nebenbei selbst Musik. Er hatte Caro zugesagt, dass wir uns in dem Proberaum seiner Band mal ausprobieren dürften. Und da kreative Prozesse ja meistens einige Stunden dauern, könnten wir in der großen Stadt Hamburg bei ihm übernachten.
Als wir angekommen waren, klingelten wir und erklommen aufgeregt schnatternd die Terrazzo-Treppenstufen des Mietshauses. Noch nicht ganz oben, ging über uns sc