II
Die Worte und Ereignisse jenes Abends müssen sich wie mit einem stählernen Griffel in Herrn Rasumows Erinnerung eingegraben haben, war er doch nach Monaten noch imstande, alles umständlich und genau niederzuschreiben.
Die Aufzeichnung der Gedanken, die ihn überfielen, als er auf der Straße war, ist noch ausführlicher und mehr ins einzelne gehend. Diese Gedanken scheinen sich mit besonderem Gusto auf ihn gestürzt zu haben, nun, da seine Denkfähigkeit nicht länger von Haldins Gegenwart gelähmt war – der gräßlichen Gegenwart eines großen Verbrechens und der betäubenden Kraft eines großen Fanatismus. Wenn ich in Herrn Rasumows Tagebuch blättere, muß ich allerdings zugeben, daß ›Ansturm von Gedanken‹ wohl doch nicht das richtige Bild ist.
Richtiger wäre es, von einem ›Wirrwarr der Gedanken‹ zu reden, was auch dem Zustand seiner Gefühle besser entspricht. Es waren nicht viele Gedanken, sie waren wie die der meisten Menschen gering an Zahl und schlicht, doch können hier nicht alle die abgerissenen Ausrufe wiedergegeben werden, in denen sie sich unablässig und ermüdend wiederholten, denn Rasumows Weg war lang.
Falls sie dem westlichen Leser erschreckend, unangebracht oder sogar unpassend vorkommen sollten, so möge man sich erinnern, daß dies an meiner ungeschliffenen Wiedergabe liegen mag, und im übrigen möchte ich noch einmal betonen, daß diese Geschichte nicht im westlichen Europa spielt.
Es mag wohl sein, daß die Nationen sich ihre Regierungen zurechtschneidern, doch die Regierungen zahlen es ihnen mit gleicher Münze heim. Es ist undenkbar, daß ein junger Engländer sich in Rasumows Lage befinden könnte. Da dies so ist, wäre es müßig sich auszumalen, was er denken würde. Mit Sicherheit kann einzig angenommen werden, daß er anders dächte, als Herr Rasumow in dieser Schicksalskrise dachte. Der junge Engländer hätte weder persönliches noch überkommenes Wissen von den Mitteln, mit denen eine jahrhundertealte Selbstherrschaft Gedanken unterdrückt, ihre Macht schützt und ihr Dasein verteidigt. Eine ausschweifende Phantasie könnte ihm die Vorstellung vermitteln, willkürlich eingesperrt zu werden, doch wenn er nicht gerade Fieberträume hat (und vielleicht nicht einmal dann), könnte es ihm nicht einfallen, sich vorzustellen, daß man ihn zu Verhörs- oder Strafzwecken auspeitscht.
Das ist nur ein grobes, sich aufdrängendes Beispiel für die Andersartigkeit westlichen Denkens. Ich weiß übrigens nicht, ob Herr Rasumow besonders an diese Gefahr dachte. Zweifellos mischte sie sich aber in die allgemeine Angst und das Grauen dieser Krise. Man hat gesehen, daß Rasumow sich sehr wohl der weniger groben Methoden bewußt war, vermittels deren eine despotische Regierung das Verderben des einzelnen herbeiführen kann. Allein die Relegierung von der Universität (das geringste, was er zu erwarten hatte), zusammen mit der Unmöglichkeit, seine Studien anderwärts fortzusetzen, reichte hin, einen jungen Menschen zugrunde zu richten, der ganz auf die Ausbildung seiner angeborenen Anlagen angewiesen war, um sich einen Platz im Leben zu sichern. Er war Russe: belastet zu werden bedeutete für ihn einfach, in die tiefste soziale Schicht abzusinken, Gefährte der Hoffnungslosen und Verarmten, der Nachtvögel der Stadt zu werden.
Bei einer Bewertung seiner Gedanken muß auch Rasumows Herkommen, oder vielmehr der Mangel an Herkommen, in Betracht gezogen werden. Denn auch ihm war dieser Umstand gegenwärtig. Erst eben noch hatte der verwünschte Haldin ihn auf besonders grausame Weise daran erinnert. ›Soll mir denn alles genommen werden, nur weil ich da