Im Wald gilt das Gesetz des Waldes
Kendaré
Das schattenreiche Dickicht lichtete sich und kühler Wind umwarb Kemi und Airo, während sie auf Molis Rücken immer weiter gen Norden getragen wurden. Die Sträucher am Waldrand waren mit Raureif überzogen, der triste Himmel wolkenverhangen.
Airo hatte bei Händlern eine alte Decke erworben, die Kemi wie einen Mantel um ihren Leib geschlungen trug, der Saum flatterte hinter ihnen im Wind. „Es wird schneien“, sagte Airo. „Schnee am Neujahrstag bringt Glück und Segen.“
Sie trafen kaum noch Reisende an. Nur gelegentlich überholten sie gemächlich trottende Kolonnen aus Händlern, die mit Pferdekarren in ihre Heimatorte zurückkehrten und zumeist in Gedanken versunken auf einen fernen Punkt zwischen den Ohren ihrer Pferde starrten. Die Eile von Airo und Kemi löste Verwunderung aus, denn hier im Norden des Reiches gab es nur wenig, das Hast begründen würde.
Das bekümmerte die beiden nicht. Sie ritten, als ob nur die Welt vor ihnen bestand und alles, das sie hinter sich ließen, sich in Luft auflöste und der Vergessenheit anheimfiel. Die Muskeln und Sehnen der jungen Stute waren kraftvoll wie ein Sturmwind über dem Terime-Meer und trugen sie unaufhaltsam ihrem Ziel entgegen. Der junge Pferdezüchter gönnte seiner prächtigen Stute so viele Verschnaufpausen, wie ihre Lage es ihnen erlaubte. Denn ihre Häscher folgten ihnen unerbittlich. Tarams Bande trieb eine hartherzige Wut an, vermengt mit einer unbändigen Grausamkeit. Sie überfielen Schmieden und Pferdeställe, schlugen und töteten ihre Bewohner und griffen sich bei jeder Gelegenheit Nahrung und frische Pferde. Doch selbst ausgeruhte Tiere konnten Moli nicht einholen.
Für Kemi und Airo waren ihre Verfolger widrige schwarze Punkte in der Landschaft, die dann erschienen, wenn sie einige Zeit länger als angebracht ruhten und dann über ihre Schulter sahen. Kemi hatte sich stumm an die Hoffnung geklammert, dass die Verfolger schon bald aufgeben würden.
Airo glaubte dies keinen Augenblick. Dieses Mädchen, dessen Brust sich den meisten Teil des Tages gegen seinen Rücken drückte und deren Kinn oft auf seiner Schulter ruhte, hatte einen Mord im Palast beobachtet und – was noch schlimmer wog – sich verdächtig gemacht, die Pläne der darin verwickelten Edelleute erlauscht zu haben.‚Es sind Reiche wegen weniger gestürzt‘, dachte Airo schwermütig. Gegenüber Kemi gab er sich jedoch zuversichtlich. Er wusste, dass sie Gefahr lief, mutlos zu werden und dass sie ihre Verfassung nur mit schierem Willen zusammenhielt. Und die Hoffnung, dass er sie nach Arkat Andoriam bringen würde, war der Faden in dieser schlechten Naht.
In Sichtweite eines Turms, der hoch über ihnen aus dem bewaldeten Felsen ragte, hielten die beiden an. Nur wenig Schritte entfernt sprudelte eiskaltes Wasser aus dem Felsen und wurde zu einem Bach.
„Der Wachturm von Quarat Yong“, erklärte Airo. „Wir werden hier rasten.“
Kemi glitt aus dem Sattel und fröstelte, während sie auf dem Boden die kalten, von Zweigen zerkratzten Beine streckte. „Ein kwantarischer Name“, sagte sie. „Es kann nicht mehr weit sein.“
„Als der Wachturm erbaut wurde, gab es Kendaré noch nicht“, erzählte der Junge, während er sein Pferd striegelte. „Wir werden noch eine Weile reiten müssen, um die Grenze zu erreichen, falls sie überhaupt markiert ist. Doch damals verlief sie genau hier. Sibelin und Kwantaré waren da noch