1. KAPITEL
Kayla erblasste. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich Unglaube, dann Entsetzen, schließlich Furcht. „Was? Was hast du getan?“
„Denk bloß nicht, dass es mir leichtgefallen wäre, zu Duardo Alvarez zu gehen und ihn um Hilfe zu bitten.“
Jacobs fast ärgerlich ausgesprochene Erklärung traf sie wie ein Schlag. Sie schwankte zwischen Wut und Verzweiflung.
Duardo Alvarez.
Schon allein der Name jagte ihr eiskalte Schauer über den Rücken.
Was für einen Aufstieg er hinter sich hatte! Vom Jungen aus ärmlichen Verhältnissen zum Unternehmer und Millionär mit Wohnsitzen rund um den Globus.
Alvarez war einmal ihr Ehemann gewesen. Und jetzt der allerletzte Mensch, der geeignet wäre, ihr oder ihrem Bruder zu helfen. „Warum, um Himmels willen, hast du das getan?“
„Ich hatte keine andere Wahl.“
Jacobs Stimme klang gequält, und Kaylas Magen zog sich vor Mitleid schmerzhaft zusammen.
Du liebe Güte!
Sie hatte ihren Exmann zuletzt bei einem traurigen Anlass gesehen: Während der Beerdigung ihres Vaters. Zu der waren nur wenige wirklich Trauernde, aber eine Menge Neugieriger gekommen. Sie selbst hatte versteinert vor Kummer das Ganze nur überstanden, weil sie wie ein Automat funktionierte.
Seitdem hatte es keinerlei Kontakt mehr zwischen Alvarez und ihr gegeben. Sie legte auch keinen Wert darauf.
„Jacob, verdammt noch mal. Wie konntest du nur?“
Ihr Bruder schwieg.
Sie drang nicht weiter in ihn. In neun Minuten fuhr ihre Bahn. Wenn sie die nicht erreichte, kam sie zu spät zur Arbeit. Deshalb legte sie sich den Riemen ihrer Tasche um die Schulter und griff nach der Jacke. „Wir sprechen später weiter.“
Jacob hielt ihr einen Zettel hin. „Duardos Telefonnummer. Ruf ihn mittags an.“
Das würde sie gewiss nicht tun. Eher sollte die Hölle gefrieren.
„Bitte!“ Ihr Bruder sah sie verzweifelt an.
Kayla nahm den Zettel und steckte ihn ein. „Du verlangst viel von mir.“ Viel zu viel. Sie fühlte sich überfordert.
Ohne ein weiteres Wort verließ sie die kleine Zweizimmerwohnung und rannte die Treppen hinunter. Einen Fahrstuhl gab es nicht. Auch der Vorort, in dem sie jetzt wohnten, war schäbig. Ihr Weg führte an terrassenförmig angelegten alten Häusern vorbei. Sie machten einen vernachlässigten und heruntergekommenen Eindruck.
Nichts, aber auch gar nichts hier erinnerte an Kaylas früheres Leben.
Vor fünf Jahren hatte sie noch zu einer der reichsten Familien in Sydney gehört. Und die Enright-Smythes waren gern gesehene Gäste gewesen. Damals, mit zweiundzwanzig Jahren, besaß sie schon einen Abschluss in Betriebswirtschaft und bezog ein beachtliches Gehalt für einen eher symbolischen Posten im Unternehmen ihres Vaters.
Sie gehörte zur Highsociety, ließ keine Party aus, verschwendete Unsummen für Kleidung, reiste viel und ließ sich von Männern umschwärmen. Ihr Leben war das eines glanzvollen Schmetterlings gewesen.
Bis Duardo Alvarez die Bühne betreten hatte.
Er war damals Mitte dreißig, gab sich geistreich und stand davor, im Finanzsektor der Stadt eine Position zu erobern. Doch man munkelte über seine Vergangenheit und spekulierte über Verbindungen zur New Yorker Halb- und Unterwelt während seiner Jugend.
Alvarez war alles andere als der Mann, den sich Kaylas Eltern für ihre einzige Tochter gewünscht hatten.
Und das hatte Kayla in diesen Jahren der Aufmüpfigkeit und Langeweile besonders gereizt.
Sie fühlte sich zu ihm hingezogen. Schon allein, weil ihn der Ruch des Verbotenen umgab. Er stachelte ihren Ehrgeiz an, und Kayla wollte ihn erobern. Es gelang ihr, ohne die Selbstbeherrschung zu verlieren und sich ihm körperlich hinzugeben. Aber dann war sie so verrückt gewesen, seinen Antrag anzunehmen, mit ihm nach Hawaii zu fliegen und ihn zu heiraten.
Zweiundsiebzig Stunden später war ihr Glück dann schon zu Ende.
Ihre Mutter Blanche war nach wenigen Stunden auf der Intensivstation einem Herzinfarkt erlegen. Für diesen Schicksalsschlag machte Benjamin Enright-Smythe seine Tochter verantwortlich. Sowohl im Familienkreis als auch öffentlich bezeichnete er ihre Heirat als verhängnisvolle und folgenschwere Tor