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Diese Frau, diese Mathilde, habe ich im ersten Herbst meines Emigrantenlebens in Berlin kennen gelernt, in den frühen zwanziger Jahren zweier Zeitspannen, der des zwanzigsten Jahrhunderts und der meines widerwärtigen Lebens. Jemand hatte mir gerade eine Hauslehrerstelle bei einer russischen Familie verschafft, die noch keine Zeit gehabt hatte, arm zu werden, und die noch immer an den Phantasmen ihrer alten Petersburger Gewohnheiten festhielt. Mit Kindererziehung hatte ich keinerlei Erfahrungen – hatte nicht die geringste Ahnung, wie man mit ihnen umzugehen hat und worüber man mit ihnen redet. Es waren zwei, zwei Jungen. In ihrer Gegenwart fühlte ich mich auf demütigende Weise unsicher.
Sie zählten nach, wie viel ich rauchte, und angesichts dieser ihrer rücksichtsvollen Neugier hielt ich meine Zigarette in einem ungewohnten, unbeholfenen Winkel, so als rauchte ich zum ersten Mal; immer wieder fiel mir Asche auf den Schoß, und dann wanderte ihr klarer Blick aufmerksam von meiner Hand zu dem blassgrauen Pollen, der nach und nach in die Wolle hineingerieben wurde.
Mathilde, die mit ihren Eltern befreundet war, besuchte sie oft und blieb dann zum Abendessen. Als bei ihrem Abschied eines Abends gerade ein geräuschvoller Regenguss niederging, liehen sie ihr einen Schirm, und sie sagte: «Ach wie nett, vielen Dank auch. Der junge Mann begleitet mich nach Hause und bringt ihn dann mit zurück.» Von dieser Stunde an gehörte es zu meinen Pflichten, sie nach Hause zu bringen. Sie muss mir wohl in gewisser Weise gefallen haben, diese füllige, ungezügelte, kuhäugige Dame mit den großen Lippen, die sich zu einem scharlachroten Schmollmund, einer Möchtegern-Rosenknospe spitzten, wenn sie beim Pudern ihres Gesichts in den Taschenspiegel sah. Sie hatte schlanke Fesseln und einen anmutigen Gang, was vieles wettmachte. Eine großzügige Wärme ging von ihr aus; sobald sie erschien, hatte ich immer das Gefühl, die Zimmerheizung wäre höher gedreht worden, und wenn ich diesen großen lebendigen Ofen fortgeschafft hatte, indem ich sie nach Hause brachte, und inmitten der sanft tönenden Geräusche und des Quecksilberschimmers der erbarmungslosen Nacht allein nach Hause zurückging, dann fror ich, fror so sehr, dass mir übel wurde.
Später kam ihr Mann aus Paris und begleitete sie, wenn sie zum Abendessen erschien; er war ein Mann wie alle andern, und ich achtete nicht weiter auf ihn – mir fiel nur seine Angewohnheit auf, sich vor dem Sprechen mit einer raschen Folge von Grunzlauten in seine Faust hinein zu räuspern; und auch sein schwerer schwarzer Stock mit dem glänzenden Knauf, mit dem er auf den Boden zu klopfen pflegte, während Mathilde den Abschied von ihrer Gastgeberin in einen munteren Monolog verwandelte. Nach einem Monat fuhr er wieder weg, und als ich sie am ersten Abend danach nach Hause brachte, bat mich Mathilde mit nach oben, damit ich mir ein Buch hole, zu dessen Lektüre sie mich schon lange zu überreden versucht