: Lawrence Osborne
: Welch schöne Tiere wir sind Roman
: Piper Verlag
: 9783492993425
: 1
: CHF 10,80
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine brillante Studie über Schuld und Gier Fesselnd, dicht und abgründig - ein literarisches Meisterwerk Die Luft scheint stillzustehen an diesem heißen Sommertag auf der griechischen Insel Hydra. Dort verbringt Naomi die Ferien in der Residenz ihres Vaters, einem englischen Kunstsammler. Gemeinsam mit der jüngeren Sam entdeckt sie bei einem Küstenspaziergang etwas Ungeheuerliches: Ein bärtiger, ungepflegter Mann liegt auf den Steinen, ein Geflüchteter aus Syrien, Faoud. Für Naomi die perfekte Gelegenheit, es ihrem Vater heimzuzahlen - für seinen obszönen Reichtum, seine hohlen Allüren, seine unerträgliche neue Frau. Doch als sie Faoud dazu anstiftet, bei ihrem Vater einzubrechen, hat das fatale Folgen.

Lawrence Osborne, geboren 1958 in England, studierte in Cambridge und Harvard und lebte zehn Jahre lang in Paris, bevor er in Mexiko, Marokko und Thailand Reportagen für The New York Times Magazine, The New Yorker, Harper's Magazine und viele andere schrieb. Auf Deutsch erschien bisher sein Roman »Denen man vergibt«, der von der Presse hoch gelobt wurde.

Eins


Hoch oben am Berghang über dem Hafen verschliefen die Codringtons die trockenen Junimorgen in ihrer von Zypressen und über den Türen hängenden Markisen verdunkelten Villa. In pyjamagewandeter Pracht lagen sie inmitten ihrer byzantinischen Ikonen, umgeben von Gemälden hydriotischer Kapitäne, und wussten nicht, dass ihre Tochter begonnen hatte, frühmorgens schwimmen zu gehen, dass sie sich eine Stunde vor Sonnenaufgang in der Kühle ihres Zimmers ankleidete, halb gespiegelt in einem antiken Kippspiegel. Sie zog ein Batisthemd mit Umschlagmanschetten an, legte eine dünne Lederhalskette um, warf sich eine kleine Strandtasche aus Jeansstoff über die Schulter und ging dann die gekalkten Stufen hinunter, die unterhalb des Hauses ihres Vaters verliefen. Eine enge Spirale führte sie über Treppenabsätze mit eisernen Gittern und unvermitteltem Ausblick aufs Meer, wo die steinernen Bögen die nächtliche Kühle speicherten, zum Hafen hinab; die verwilderten Grundstücke mit denPoleitai-Schildern und den Doppelschlafzimmern waren jetzt dem Himmel preisgegeben und von reglosen Schmetterlingen bevölkert.

Unten im Ort ging Naomi am Hotel Miranda vorbei, vor dem ein Anker an seiner Kette aufgehängt war und eine Tür zu einem geheimen, in blauem Bleiwurzschimmer versunkenen Garten führte. Ein Priester, der auf den Stufen saß, als wartete er auf etwas, nickte ihr zu. Sie kannten einander, ohne den Namen des anderen zu wissen. Der heilige Bart, der immer gleich aussah, das Mädchen, das Sommer für Sommer mit leisen Schritten dahinging, als könnte es nichts um sich hören. In dem kleinen Hafen umrundete sie die überteuerten Jachten, ohne in die Cafés einzukehren. Sie ließ den Touristenhafen hinter sich und beschritt einen Pfad oberhalb des Meeres, geräuschlos in ihren Espadrilles, bis sie anfing, zu singen und im Gehen ihre Schritte zu zählen. Sie kam an einer Reihe von Kanonen vorbei, die in eine Mauer eingelassen waren, und an dem Denkmal für Antonios Kriezis, hinter dem sich vom Wind zerrupfte Agaven wie Totempfähle vom Hang abspreizten. Sie umrundete die Insel in nördlicher Richtung auf einem Weg, der zu der kleinen Bucht namens Mandraki führte, in der sich, wie ihre griechische Stiefmutter oft sagte, das Wasser nicht bewegte. Sie hatte nie herausgefunden, warum sich am Wegrand rostiger Schrott auftürmte, Boiler und Eisenträger, vor langer Zeit zwischen die Blumen gekippte Zementmischer.

Auf der Bergkuppe über Mandraki standen einige imposante, von langen Mauern umgebene Villen, deren Türklopfer wie das Haupt der Athena geformt waren. In der Bucht lag ein heruntergekommenes Resort namens Mira Mare, wo man ein kleines Wasserflugzeug an den Strand gehievt und die Fenster mit Sichtblenden verkleidet hatte. Strohlose Sonnenschirmgerippe waren über das Grundstück hinter dem Strand verstreut, doch von Mandraki an wurde der Weg sauberer. Er schlängelte sich durch hügeliges Buschland auf Zourva zu, und dort fegte ein brennender Wind über weite Steinfelder zum Wasser hinunter. Es war kalt und fast schwarz, solange die Sonne nicht hoch genug stand, um es zu erhellen. Hier schwamm Naomi immer, bis ihr kalt war und ihre Finger taub wurden.

Ihrem Vater und Phaine erzählte sie nie von ihren morgendlichen Schwimmausflügen, und es gab auch keinen Grund dazu. Was hätten sie gesagt? Das Alleinsein war etwas, das ihnen nichts bedeutete. Sie hätten nicht verstand