: Mark Terkessidis
: Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute
: Hoffmann und Campe Verlag
: 9783455005790
: 1
: CHF 9.30
:
: Gesellschaft
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Als das Deutsche Reich am 28. Juni 1919 den Vertrag von Versailles unterzeichnete, gingen die überseeischen Kolonien an die Siegermächte des Ersten Weltkriegs über. Lange vergessen, kehrt die Kolonialperiode in Ländern wie Namibia, Kamerun oder Ruanda in den letzten Jahren in die Erinnerung zurück. Was bedeutet dieses Wiederauftauchen für die Bundesrepublik? Müsste in der »postkolonialen« Sichtweise nicht auch das deutsche Eroberungsstreben in Richtung Osten eine Rolle spielen? Die neue Erinnerungskultur hat gravierende Auswirkungen für das Selbstverständnis eines Landes, dessen Bevölkerung immer diverser wird. Der lange Schatten der deutschen »Kulturmission« findet sich heute etwa im Umgang mit der »Schuldenkrise«, mit Migration und Flucht und im alltäglichen Rassismus. Mark Terkessidis, renommierter Migrations- und Rassismusforscher, macht mit seinem Blick in die Vergangenheit aktuelle Debatten nachvollziehbar und zeigt, an welchen Stellen sie in eine neue Richtung gelenkt werden müssen. Zudem macht er sichtbar, welche Fragen sich ergeben, wenn auch die Erinnerung jener zählt, die eingewandert und damit Teil der Gesellschaft geworden sind.

Mark Terkessidis, geboren 1966, ist freier Autor und hat u. a. für taz, Tagesspiegel, Die Zeit und Süddeutsche Zeitung geschrieben sowie Radiobeiträge für den Deutschlandfunk verfasst und im WDR-Radio moderiert. Er promovierte über die Banalität des Rassismus und unterrichtete an den Universitäten Köln, Rotterdam und St. Gallen. Zuletzt veröffentlichte er Interkultur (2010), Kollaboration (2015) und Nach der Flucht (2017). Er lebt in Berlin.

Kapitel 1Auf den Spuren von Kolumbus


Deutsche Kaufleute erobern Amerika


Wenn in der Öffentlichkeit über die deutsche Kolonialgeschichte gesprochen wird, dann erscheint als Ausgangspunkt gewöhnlich das späte19. Jahrhundert; der Zeitpunkt, als das Deutsche Reich begann, Gebiete in Übersee in Besitz zu nehmen. Doch die Beteiligung von Deutschen an der europäischen Expansion geht viel weiter zurück, bis ins Zeitalter der sogenannten Entdeckungen im15. und16. Jahrhundert. Im Geschichtsunterricht werden die Familien Fugger und Welser aus Augsburg als Kaufleute und Finanziers präsentiert, die bereits zu jener Zeit mit ihren zahlreichen Geschäften in der ganzen Welt agierten. Im Jahr2014 eröffnete in Augsburg erstmals ein Museum zu den beiden Dynastien. Im Flyer des Hauses wird ein »Erlebnis« von Augsburgs »goldener Zeit« versprochen, einer Zeit, in der die Kaufleute »Waren nach Indien und Amerika schickten und die große Politik beeinflussten«. Im Augsburger UnternehmensmagazinTatendrang, das sich2015 dem Museum widmete, werden Fugger und Welser im Neusprech für Globalisierung vorgestellt: Bei ihnen war schon alles »Global Market«, »Networking«, »Wireless Communication« etc. In einem Beitrag werden sie als »Handelsgenies« gepriesen, und das Gespräch mit einem Wirtschaftshistoriker trägt die Überschrift: »Prädikat: Unbedingt nachahmenswert!« Nun schauten insbesondere die Welser zweifellos mutig auf Handelsrouten weit über ihre Stadt hinaus. Sie hatten eine erstaunlich globale Perspektive in einer Zeit, als die buntscheckige Ansammlung von Fürsten- und Bistümern, die locker vereint das Heilige Römische Reich deutscher Nation bildete, überwiegend mit sich selbst und der Reichsreform beschäftigt war.

Allerdings haben zeitgenössische Darstellungen über manche der überseeischen Unternehmungen der Welser weniger Angenehmes zu sagen. In seinem berühmtenBericht von der Verwüstung der westindischen Länder von1542 erwähnt der Dominikanermönch und spätere Bischof von Chiapas, Bartholomé de Las Casas, auch die nahezu dreißig Jahre währende Anwesenheit der Welser im heutigen Venezuela. Er nennt die Deutschen »eingefleischte Teufel«: »Sie wüteten weit grausamer unter ihnen (den Ureinwohnern;MT), als alle bereits erwähnten Barbaren; ja noch viehischer und rasender, als die blutgierigsten Tiger und wütigsten Wölfe und Löwen. Vor Geiz und Habsucht handelten sie weit toller und verblendeter, als alle ihre Vorgänger, ersannen noch abscheulichere Mittel und Wege, Gold und Silber zu erpressen, setzten alle Furcht vor Gott und dem Könige, und alle Scham vor Menschen hintenan; und da sie so große Freiheiten genossen, und die Jurisdiktion des ganzen Landes in Händen hatten, so vergaßen sie beinahe, daß sie Sterbliche waren.«

Las Casas nennt eine Reihe von besonders grausamen Beispielen und spricht von vier bis fünf Millionen Opfern. Nun war er für seinen Furor bekannt, und sicher können die Zahlen übertrieben sein. Doch selbst wenn sie massiv heruntergerechnet werden, bliebe die Anzahl der Opfer immer noch bedeutend. Umso erstaunlicher ist, dass davon in der Bundesrepublik kaum etwas bekannt ist. Die Kaufleute der Welser hatten sich sogleich für die Möglichkeiten des überseeischen Handels interessiert, als die Kunde von Vasco da Gamas und Christoph Kolumbus’ Reisen zu ihnen nach Augsburg drang. Sie knüpften zunächst Kontakte mit Lissabon und durften sich bereits1505 mit drei Schiffen an einer portugiesischen Plündertour an die heutigen Küsten von Kenia und Tansania beteiligen. Bald darauf aber war Portugal nicht mehr bereit, Ausländer an solchen Expeditionen teilhaben zu lassen, und so