HILDE
März 1951
Es knallt wie ein Schuss. Geschirr klirrt, der Fußboden zittert, die Wände vibrieren. Drüben bei der Drehtür rieselt Putz von der Decke. Drei, vier Sekunden lang, dann hört es auf. Hilde steht wie erstarrt neben der Kuchentheke, das Tablett mit zweimal Frühstück für Tisch sieben fest in den Händen.
Im Gastraum schreit eine Frau hysterisch: »Die Russen kommen … Panzergranaten … In den Keller …«
Ein Kind fängt laut an zu weinen. Gemurmel. Erstaunte Ausrufe. Blicke zur Decke des Cafés, wo die Hängelampen schwanken. Jemand beginnt zu lachen.
»Ein Erdbeben! Ja, gibt’s das denn auch?«
Das ist der Hans Reblinger. Ein Erdbeben nur.
Hilde ist erleichtert, zugleich beginnt ihr Herz, heftig zu klopfen, es hämmert geradezu, reagiert erst jetzt auf den ausgestandenen Schrecken. Einige Gäste stehen auf und laufen auf die Wilhelmstraße hinaus. Der Bunte, der in seiner Ecke im Korb liegt, ist nicht einmal aus dem Schlaf erwacht.
»Ein Erdbeben! Ja, so was!«, sagt Finchen, die Serviererin.
Sie steht hinter der Kuchentheke und hält mit beiden Händen die Porzellanplatte mit der Schoko-Sahne-Torte fest, die sie gerade aus der Vitrine genommen hat. Jetzt stellt sie die Torte ab, nimmt das Kuchenmesser aus dem Wassergefäß und beginnt, drei Stücke abzuschneiden. Doch schon beim ersten Schnitt hält sie inne.
»Ach du lieber Gott! Haben Sie das gesehen, Frau Perrier?«
Hilde serviert erst einmal das Frühstück, es ist schon nach zehn, die beiden jungen Schauspielerinnen müssen gleich rüber zum Theater, weil die Proben anfangen. Zwei frische Brötchen, ein Klecks Butter, Marmelade, Honig, eine Tasse Bohnenkaffee. Das Ganze für neunzig Pfennige – eigentlich legen sie da drauf, aber die Gagen der Anfängerinnen sind halt klein, und sie wollen doch, dass die Künstler hier im Café Engel zu Hause sind. Zumindest will Hildes Vater das, der Heinz.
»Da wünsch ich trotzdem einen guten Appetit. Lasst es euch schmecken.«
»Danke schön … Haben Sie das schon gesehen?«
Die junge Schauspielerin, Karin Langgässer heißt sie, zeigt mit dem Finger zur Kuchentheke hinüber, und als sich Hilde jetzt umdreht, traut sie ihren Augen kaum. Durch das Vitrinenglas zieht sich ein Muster, wie mit einem grauen Stahlstift eingeritzt. Es ähnelt einem Spinnennetz.
»Nein!«, sagte Hilde leise.
Hinter der Theke stellt Finchen die Torte zurück; sie schaut Hilde mit bekümmerter Miene entgegen.
»So was aber auch«, meint sie, als Hilde das Vitrinenglas mit den Fingern prüft. »Hat alle Bombenangriffe unbeschadet überstanden, und jetzt, bei dem kleinen Wackler, da geht es kaputt. Ach Gott, wenn die Frau Koch das sieht …«
Im Café wird jetzt laut geredet, die Drehtür ist ständig in Bewegung, weil die Gäste wieder zurückkommen. Drüben im Quellenviertel sei eine Ruinenmauer umgefallen; um ein Haar wäre eine Frau mit zwei Kleinkindern zu Schaden gekommen. Ein abgestelltes Fahrrad mit zwei Einkaufstaschen sei umgefallen, und beim Café König ne