Oslo, Oktober 1942
I
Das Vorderrad landet in der Gleisrille der Straßenbahn. Sie dreht am Lenkrad, aber es ist zu spät. Sie wird stürzen. Das Vorderrad folgt dem Gleis, bis das Fahrrad kippt. Ester springt ab und läuft ein paar Schritte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Sie rutscht aus und landet beinahe auf dem Hintern, kann sich aber gerade noch auf den Beinen halten, während das Fahrrad gegen die Bordsteinkante scheppert. Das muss vollkommen idiotisch ausgesehen haben, denkt Ester. Die Stille in ihrem Rücken sagt ihr, dass alle Leute, die an der Haltestelle warten, sie beobachten. Ohne aufzuschauen oder jemanden anzusehen, klopft Ester sich den Staub von der Kleidung.
Da sieht sie, wie jemand ihr Fahrrad aufrichtet. Grüner Ärmel. Uniform. Ein Soldat. Als er sich bückt, zeigt der Gewehrlauf über seiner Schulter direkt auf sie. Esters Blick wird von dem runden Loch im Gewehrlauf angezogen. Der Soldat sagt etwas, aber sie ist zu abgelenkt, um seine Worte zu verstehen. Endlich richtet er sich wieder auf, sodass auch der Gewehrlauf wieder nach oben zeigt. Sie nimmt das Fahrrad entgegen und bedankt sich, erst auf Norwegisch, dann auf Deutsch und schließlich auch auf Englisch. Ihre letzten Worte scheint der Soldat lustig zu finden. Er sagt auf Deutsch: »Sehen Sie nicht, dass ich Deutscher bin?« Er lacht. Es ist ein putziges Lachen. Der breite Mund hustet kurze Pfeiflaute aus, wie ein quietschendes Rad. Er sieht nett aus. Unschuldig, denkt sie. Ein bisschen dumm. Wenn er wüsste, auf wen er seine Galanterie verschwendet hat.
Sie setzt den linken Fuß auf das Pedal, stößt sich ab, setzt sich auf das Fahrrad, ohne sich umzuschauen. Nähert sich der Kreuzung am Parkveien, bremst für den Fall, dass Autos kommen. Keines zu sehen. Sie biegt nach links ab, tritt in die Pedale, muss bremsen, weil ein Mann über die Straße läuft, bevor sie mit Wind im Haar in die Sven Bruns gate hineinfährt. Sie bremst in der Abfahrt. Senkt die Geschwindigkeit, um die Rechtskurve in die Pilestredet zu meistern. Die Wolkendecke bricht auf, und die Sonne scheint ihr ins Gesicht. Niedrige Sonne, Oktobersonne. Sie wirft einen raschen Blick auf ihren Rock. Ein Fleck. Sie rafft den Stoff zusammen. Die Beine werden bis über die Knie entblößt. Ein mehrstimmiges Pfeifen ertönt. Sie dreht den Kopf. Entdeckt zwei deutsche Soldaten, die an der Ecke stehen und johlen. Sie verliert beinahe wieder das Gleichgewicht, kann sich aber fangen und lässt den Rock wieder fallen. Noch mehr Pfiffe. Sie fährt in den Hinterhof. Bremst. Steigt vom Fahrrad. Lehnt es an die Wand. Atmet durch und lauscht. Sie zählt lautlos bis zehn. Haufen von nassem Laub liegen im Hof, und es riecht nach verbranntem Koks. Eine Elster springt von einem Mülltonnendeckel zum nächsten, schlägt mit den Flügeln und verschwindet. Ester hält die Luft an, damit ihr kein Geräusch entgeht. Aber im Eingang rührt sich nichts, keine Schritte sind zu hören. Im Hof ebenfalls nicht. Sie sieht sich kurz um und geht zum nächsten Mülleimer und dem Ziegelstein, der dahinter an der Mauer liegt. Sie hält die Luft an, um dem Gestank zu entkommen. Schnell zieht sie ihren Schuh au